Melanie Unseld

Musikgeschichte „Klassik“

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 7-8/2023 , Seite 64

Dies vorweg: eine Lektüre, die unbedingt lohnt! Denn wie Musikgeschichte auf zeitgemäße Art und Weise zu erzählen sei, das führt Melanie Unseld hier höchst erhellend vor. Kritisch und mit neujustiertem, kultursoziologisch akzentuiertem Zugriff wird der in Rede stehende Zeitabschnitt ausgehend von der umstrittenen, aber immer noch gebräuchlichen Epocheneinteilung auf seine Eigentümlichkeiten und Rahmenbedingungen hin befragt. Was also prägt Musik und musikkulturelle Praxis jener „Sattelzeit“ zwischen etwa 1750 und 1830? Welche geistesgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Einflussgrößen, welche ästhetischen Diskurse und formgestalterischen Prinzipien kennzeichnen sie?
In zwei umfangreichen Hauptkapiteln spannt die Autorin ein weites Panorama relevanter Aspekte auf. Kapitel 2 „Musik in Europa zwischen 1750 und 1830“ nimmt drei hauptsächliche Perspektiven ein: Neben der klug komprimierten Zusammenschau gesellschaftlicher Phänomene und politischer Mächte- und Kräfteverhältnisse sind hier wesentliche (musik-)ästhetische Leitideen unterschieden und es stehen schließlich die Akteure in ihren die musikkulturelle Vielgestaltigkeit erst ermöglichenden Rollen im Fokus. Kapitel 5 „Was klingt an Ort und Stelle? Aufführungsräume und Gattungen“ macht zunächst entlang der gewählten Systematisierung deutlich, in welchem Maße orts- und funktionsgebundene Umstände der Musikproduktion und -präsentation auch mit der (Weiter-)Entwicklung von Kompositionsformen verflochten sind – um dann abschließend unter der Überschrift „Räume ausdehnen: Migration und Transfer“ auch jene Phänomene der Raumüberwindung und der (mitunter global wirkenden) Austauschprozesse zu beleuchten. Dabei bindet Melanie Unseld immer wieder Beobachtungen an exemplarisch ausgewählten Kompositionen ein, womit sie die Relevanz der zuvor identifizierten Wirkgrößen gleichsam in Nahaufnahme offenlegt.
In drei knapper gefassten Kapiteln macht die Autorin die vielfältigen Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Klassik“ transparent. Sie sensibilisiert zugleich dafür, dass Geschichtsschreibung nicht ohne erdachte Zäsuren und gedankliche Konstrukte auskommt, widmet sich der Frage nach dem „klassischen Stil“, indem sie zeitgenössische Positionen auswertet und die Rolle von Definitionsbestrebungen im 19. Jahrhundert für die „Konstruktion des Klassischen“ aufzeigt – und sie plädiert schließlich dafür, musikalische Formideen im Sinne ästhetischer Diskurse und gelebter Musikpraxis zu verstehen.
Diesem „Studienbuch“ gelingt beides: sachklärende Erkenntnisse zu vermitteln und eben auch methodisches Rüstzeug für eine (je eigene) verständige Begegnung mit Musikgeschichte bereitzustellen.
Uneingeschränkte Empfehlung!
Gunther Diehl

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support