Langhammer, Franziska

Musiker auf Betablocker

Tabuisierung statt Thematisierung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 07-08/2010 , Seite 24
Junge Musiker sind beim Probespiel für eine Orchesterstelle einer extremen Stresssituation ausgesetzt. Nicht selten greifen sie zu Betablockern, um ihre Aufregung in den Griff zu bekommen. Einige Professoren unterstützen sie sogar dabei, offen gesprochen wird darüber kaum.

Am schlimmsten ist der Moment, wenn alles still ist. Wenn 60 Profimusiker im Zuschauerraum sitzen und warten. Wenn er vor dem Notenpult steht, sein Horn anhebt und anfängt zu spielen. Irgendwann wollte Thomas sie nicht mehr aushalten, diese Aufregung, die den Körper beständig Adrenalin ausschütten und nichts anderes spüren lässt als den Reflex, wegzurennen. Da hat er eben zu Betablockern gegriffen. Ein Freund von ihm hat sie besorgt. „Ich habe gedacht, ich brauche das“, sagt Thomas, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. Insgesamt zwei Mal schluckt er die rosa Pille vor den Probespielen. Einmal spürt er gar nichts, das nächste Mal fühlt er sich gut – bekommt aber die Stelle nicht.
Der Arzneistoff, der eigentlich gegen Bluthochdruck eingesetzt wird, dämpft das Stresshormon Adrenalin und unterbindet so die körperlichen Auswirkungen der Angst. Drei bis vier Stunden hält die Wirkung an, also ziemlich genau die Dauer eines Orchesterdienstes. Körperlich können Betablocker nicht abhängig machen, psychisch sehr wohl. Jeder Musiker, der ein Probespiel mit der rosa Pille bestanden hat, muss sich langfristig fragen: Schaffe ich das auch ohne Tabletten?
Mit Lampenfieber müssen sich junge Musiker in besonderer Weise auseinandersetzen: Bewirbt man sich in einem Orchester, und sei es nur für ein befristetes Praktikum, darf die versammelte Mannschaft zuhören und ihr Votum abgeben. Entschieden wird nicht nur nach Qualität, sondern auch danach, ob es menschlich passt. Manchmal bestimmt schon das „Hallo“ den Ausgang der Bewerbung. Einige Orchester lassen deshalb in der ersten Runde hinter dem Vorhang spielen, der so genannten spanischen Wand. Nichts anderes soll die Entscheidung beeinflussen als das Können des Bewerbers. Dass man das Publikum nicht sieht, hilft aber auch nicht viel gegen das Lampenfieber. Spielen und überzeugen muss man ja trotzdem. Einen Betablocker zu schlucken, scheint da eine einfache Lösung.

Angst vor der Angst
Die Angst vor der Angst meldet sich bei Thomas schon Tage vor dem wichtigen Moment. Die Angst davor, die körperliche Kontrolle zu verlieren, die Angst, nicht alles geben zu können, wenn es darauf ankommt. Und das sind fünf, höchstens sieben Minuten, wenn man nicht gleich in der ersten Runde rausfliegen will. „Man schläft meistens die Nacht davor schlecht, kriegt kaum was zu essen runter“, sagt Thomas. Er ist 32 und spielt seit drei Jahren in einem Orchester, bewirbt sich aber nebenbei noch für andere Stellen. Manchmal geht der Stress ein bisschen runter. Aber selbst während des Spielens verschwindet nicht automatisch das Gedankenkarussell, das einen in den Wahnsinn treiben kann: Was, wenn jetzt was passiert? Wenn mitten im Mozart die Luft ausgeht? Wenn die Finger zittern, nicht schnell genug greifen?
„Man braucht sich nicht einzureden, dass das toll ist – eine schreckliche Situation ist das“, sagt Andreas Moritz, Orchestermanager an der Komischen Oper Berlin, „man zieht sich ja innerlich nackt aus, wenn man auf der Bühne steht.“ Er war selbst viele Jahre als Trompeter tätig, zuletzt bei den Berliner Symphonikern. Heute, auf der anderen Seite des Vorhangs, kann Moritz offen darüber sprechen, dass er mit Mitte zwanzig selbst einmal Betablocker genommen hat. Das Thema ist, glaubt er, kein unwesentliches Phänomen in Musikerkreisen, zugleich aber ein absolutes Tabu. Vor allem unter Kollegen spricht man nicht darüber.
Warum eigentlich, wenn sich doch jeder mit Lampenfieber auseinandersetzen muss? „Weil das in der Wahrnehmung die Person schwächt“, sagt Moritz, „man glaubt, man wird als waidwundes Wild angesehen, und möchte doch eigentlich überzeugen.“ Gerade nach dem Studium, wenn Persönlichkeit und Vertrauen in das eigene Können noch nicht so gefestigt seien, seien Musiker gefährdet, zu Betablockern zu greifen. Gewonnen hat Moritz Probespiele nur ohne Medikamente und ist im Nachhinein heilfroh darum. Auf diese Weise ein Vorspiel zu überwinden, sei nicht gefährlich: „Viel schlimmer ist die Frage: was dann?“ Was passiert in der nächsten Stresssituation, die unweigerlich mit dem ersten Konzert im Orchester kommen wird, wenn man seine Leistung, seinen Erfolg an Medikamente bindet?

Warum Tabuthema?
Sportler können sich von ihrer Nervosität in der Bewegung befreien. Musiker müssen von der Grundhaltung ruhig sein, auch wenn alles in ihnen zur Flucht ruft. Die Angst spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern auch im Körper: Bläser klagen über einen trockenen Mund, Streicher über kalte, feuchte Finger oder ein Zittern der rechten Hand, Pianisten über schwitzige Finger, die sie auf den Tasten abgleiten lassen. Im besten Fall wandeln Musiker das Adrenalin in positive Energie um, spielen sich frei von der Angst. Will dies auch nach wiederholtem Probespiel nicht klappen, ist oft der Schritt zum Betablocker nicht mehr weit.
Medizinisch, nicht moralisch solle die Debatte um Betablocker bewertet werden, findet Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie Hannover. In seine Praxis kommen viele Berufsmusiker. Betablocker zu verschreiben, gehört zu seinem Alltag: Rund 60 Prozent der Solospieler im Orchester, so Altenmüller, greifen sporadisch zu diesem Arzneimittel. Gerade bei jungen Musikern, bei denen ein Probespiel über die weitere Karriere entscheiden könne, hält er eine kurzfristige Einnahme für vertretbar. „Man muss unterscheiden zwischen positivem Lampenfieber und negativer Auftrittsangst“, sagt er. Wenn der Leidensdruck der Musiker zu groß werde, müsse man den Teufelskreis zwischen Angst, negativer Erwartungshaltung und misslingendem Probespiel unterbrechen. Betablocker seien in solchen Fällen ein verträgliches Mittel ohne Nebenwirkungen. Körperlich zumindest. Eine andere Frage ist, wie die Psyche auf Dauer damit klar kommt, wenn Erfolg an den Konsum von Medikamenten gekoppelt wird. Deshalb betont Altenmüller, Betablocker nur als kurzfristige Lösung, als „Feuerwehr“, zu empfehlen. Wenn jemand auch nach jahrelanger Routine mit Aufführungssituationen nicht klar kommt, sollte er sich überlegen, ob Musiker wirklich der richtige Beruf ist.
In der Kantine der Staatsoper Berlin scheint der Stress um die Mittagszeit Pause zu machen, man grüßt sich fröhlich, die Kollegen scherzen miteinander. Zum Thema Betablocker wird Bassam Mussad herangerufen, ein 24-jähriger Musiker aus den USA, der als Solotrompeter schon viele Konzerte hinter sich hat. „Bassam, du nimmst doch Betablocker“, sagt ein Mitglied des Orchestervorstands, „setz dich mal her und erzähl was darüber.“ Bassam setzt sich dazu und erzählt. Ein bisschen erstaunt ist er darüber, dass Betablocker in Deutschland ein solches Tabuthema sind. Er nimmt sie zwar nicht oft, die rosa Pillen, doch einmal im Vierteljahr kommt das schon vor. Angefangen hat er damit nach einem Konzert in Georgia, USA, bei dem ihm plötzlich schwindlig wurde. Das Schwindelgefühl ging nicht weg, auch beim nächsten Konzert nicht. Seine Eltern, beide Apotheker, haben ihn schließlich zu seinem Onkel, einem Arzt geschickt, der ihm bis heute die Tabletten verschreibt. „Mit Betablockern fühle ich mich nicht anders“, sagt Bas-sam, aber schwindlig sei ihm nicht mehr gewesen. So ganz ohne Zweifel ist er aber dann doch nicht: „Die Frage ist, ob das ein medizinisches oder ein psychisches Problem bei mir ist.“
Amerika ist ein gutes Beispiel dafür, wie emotional aufgeladen die Debatte über Betablocker ist und welche Paradoxien sie nach sich zieht. Einerseits spricht man in den USA öffentlich und ohne Schamgefühle über den Konsum von Tabletten. Andererseits erinnert sich jeder Musiker noch gut an den Fall, der 2007 weltweit durch die Presse ging: Ruth Anne McClaine, Dozentin für Flöte, wurde am Rhodes College in Memphis fristlos gekündigt, weil sie ihren Studenten zur Einnahme von Betablockern geraten hatte.

Andere Wege
An deutschen Hochschulen kommt man bei diesem Thema auch auf keinen gemeinsamen Nenner. Einige Professoren raten zu Betablockern, weil sie selbst damit positive Erfahrungen gemacht haben. Andere wiegeln ab: „Da musst du doch keine Angst haben.“ Öffentlich gesprochen wird über Lampenfieber und Strategien dagegen noch immer viel zu wenig.
Vorne dabei sind beim Thema Auftrittscoaching z.B. die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ und die Universität der Künste in Berlin. Kristin Guttenberg, die das an den beiden Hochschulen angegliederte Kurt-Singer-Institut für Musikphysiologie und Musikergesundheit leitet, beobachtet, „dass das Bewusstsein unter den jungen Musikern und Lehrenden wächst, dass andere, nachhaltigere Wege gefunden und gegangen werden wollen als die Einnahme von Medikamenten“. Neben Seminaren über körperorientierte Methoden zur Steigerung des Bewusstseins, beispielsweise durch Yoga oder QiGong, wird auch über die Bedeutung von so genannten „Life-Style-Issues“ aufgeklärt, also den Schlaf-Wach-Rhythmus, Regeneration, Ernährung etc. Nicht nur Studierende setzen sich dabei mit den Methoden auseinander, sondern eben auch die Dozenten.
Auch aus anderen Disziplinen holt man sich Hilfe: Sportpsychologin Ulrike Klees gibt beispielsweise an der Musikhochschule Würzburg Kurse. Betreute sie früher die Frauen des deutschen Schwimmnationalteams, hilft sie heute Musikstudenten, mit ihren Ängsten umzugehen. Enormen Zulauf erleben in den vergangenen Jahren auch Mentaltrainer und Auftrittscoaches. Petra Keßler aus Duisburg, selbst ausgebildete Flötistin, bietet beispielsweise Entspannungstechniken und mentale Übungen, mit denen man in relativ kurzer Zeit erstaunliche Erfolge erzielen kann. Das sei vor allem wichtig, um die Angst bei den Wurzeln zu packen. Betablocker seien daher auch keine langfristige Lösung, so Keßler: „Sie dämmen zwar die körperlichen Beschwerden, aber im Kopf ändern sie nichts.“
Als reine „Kosmetik“ bezeichnet Michael Bohne die spärlich gesäten Trainingsangebote. Der Psychiater und Auftrittscoach ist mit seinen Publikationen über den Umgang mit Lampenfieber einer breiten Masse von Musikern bekannt. Besonders auf klassische Musiker und Opernsänger hat er sich spezialisiert, um sie beim professionellen Umgang mit der Angst auf der Bühne zu unterstützen.
Neben einer individuellen Analyse des Selbstwertgefühls wendet er die so genannte Klopftechnik an, eine Methode zum emotionalen Selbstmanagement, bei der auf Akupunktur-Punkte am Körper geklopft wird, um die neuronalen Auswirkungen der Angst zu verhindern und direkt im Gefühlshirn eine Stressreduktion zu bewirken. „Klingt verrückt, sieht auch komisch aus“, sagt Bohne, aber schon mit ein bis drei Sitzungen könne man erstaunliche Erfolge erzielen. Dabei stellt er klar: „Es geht nicht um Therapie, sondern um Coaching.“
Lampenfieber und Auftrittsstress dürften nicht pathologisiert werden. Genau das geschehe aber mit der regelmäßigen Einnahme von Betablockern: „Langfristig ist das eher selbstwert-schwächend“, sagt Bohne. Er erzählt von einem Musiker, der 15 Jahre mit Betablockern in großen Orchestern gespielt und es nach einem Coaching dann ohne versuchte habe. Plötzlich sei das Gefühl beim Spielen ein ganz anderes gewesen, plötzlich fühlte er sich in der Musik wieder lebendig. „Betablocker kappen ja auch die positiven Auswirkungen des Adrenalins“, erklärt Bohne.
Noch ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Die Hochschulen hätten es total versäumt, ihren Absolventen hinsichtlich ihrer mentalen Auftrittskompetenz die bestmöglichen Startmöglichkeiten zu bieten: „Das ist eine Katastrophe aus Leistungssicht“, so Bohne, „und außerdem zutiefst inhuman.“
Für Thomas war das erste Probespiel wie ein Sprung ins kalte Wasser: „Ich habe mich überhaupt nicht vorbereitet gefühlt.“ Ein Fortschritt im Vergleich zu seiner eigenen Hochschulzeit ist es zumindest einmal, dass Lampenfieber langsam öffentlich diskutiert wird. Mit seiner Angst fühlt man sich immer ein bisschen allein. „Man denkt, man ist ein Sonderfall“, sagt Thomas, „aber im Grunde geht es fast allen so, die auf der Bühne stehen und nur das Instrument als Mittel zum Zeigen haben.“