Musik und Natur

Werke von Jiri Ignác Linek, Manfred Schlenker, Stephan Katte, Wolf Günter Leidel, u. a.

Rubrik: CDs
Verlag/Label: gutingi 234
erschienen in: das Orchester 07-08/2006 , Seite 93

Vielen Musikliebhabern wird es nicht leicht fallen, im Alphorn mehr als einen Ausdruck der Folklore zu sehen, die ihre mediale Vergegenwärtigung in einer einschlägig bekannten Bonbonwerbung findet. Doch das Image des Alphorns hat sich in den jüngsten Jahren spürbar gewandelt. Es ist nicht mehr nur auf saftigen Bergwiesen und schneebedeckten Gipfeln zu Hause, sondern wird von den immer zahlreicheren Alphorn-Ensembles bis weit in die bundesdeutschen Ebenen hinein getragen.
Im Münsterland beispielsweise werden die langen Holzrohre in der Gruppe geblasen und auch in Weimar ist seit einiger Zeit ein Alphornensemble ansässig, das mit Musikern der Weimarer Staatskapelle besetzt ist und jetzt unter dem Titel Musik und Natur eine bemerkenswerte CD vorgelegt hat.
Musik und Natur – das verweist nicht nur auf die montane Aufführungspraxis, sondern auch auf die klanglichen Grundvoraussetzungen, denen jedes Alphorn unterworfen ist. Der Bläser bekommt aus ihm nämlich nur Naturtöne heraus und kann den Klang im Gegensatz zur Naturtrompete oder dem Naturhorn weder mit Hilfe von Grifflöchern noch durch Stopfen beeinflussen. Das Ergebnis ist unmittelbar, rein, ungeschminkt: ein musikalisches Ur-Erlebnis abseits der Zivilisiertheit des klassischen Konzertlebens.
Der Kirchenmusik-Komponist Manfred Schlenker hat das im Vorwort zu seinem Werk Der Klang des Waldes folgendermaßen ausgedrückt: „In den Alphörnern wurden die Baumstämme von ihrem Holzkern befreit, sodass die in den Jahresröhren stehende Luft durch unterschiedlichen Ansatzdruck zu klingen beginnt: Der Baum singt seine eigene Melodie.“ Alphornmusik besitzt eine regelrecht transzendentale Wirkung, gerade wenn das Klangspektrum weit aufgefächert wird wie in Urs Vierlingers Abendruhe und Bergnacht. Ein knorriger Basston erdet die Seele, die Gedanken schweifen in Hornquinten über die Landschaft. Das klingt manchmal nach Didjeridoo, aber es wird auch deutlich, welches klangliche Vorbild etwa Richard Strauss für den Beginn seiner Alpensinfonie oder Richard Wagner für den Anfang des Rheingold-Vorspiels im Ohr hatten.
Um die frappierende Urkaft des Alphorns zu erfahren, bedarf es bei der bläserischen Ausführung freilich hoher Perfektion wie der des Weimarer Ensembles. Seine vier Mitglieder haben ihre 4,30 Meter langen Hörner aus Thüringer Fichten selbst gefertigt, verwenden jedoch weiter das jeweilige Mundstück ihres „normalen“ Instruments. Was die Kontrolle der schwer zu zähmenden Holzriesen erleichtert und auch einen größeren Tonumfang ermöglicht: Mit seinem Tubamundstück stößt etwa Daniel Hartmann bis in die Grundtiefen bläserischer Imaginationskraft vor.
Der Alphornsound ist freilich auch gewöhnungsbedürftig, spätestens dann, wenn bekannte Melodien durch den qua Naturgesetz „unsauberen“ elften Naturton (der zwischen f und fis liegt) verfremdet werden. Barocke Fanfaren oder Volkslieder gehören daher nicht zu den Höhepunkten dieser Aufnahme, umso mehr zeitgenössische Kompositionen, in denen Naturtöne ganz organisch eingesetzt werden. Spannend auch die Gegenüberstellung von Alphörnern in unterschiedlicher Stimmung. Etwas aus dem Rahmen fallen zwei Werke für Gemshorn-Quartett. Klasse: Das schön geschriebene, informative Booklet. Alles in allem: ein Erlebnis.
Johannes Killyen

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