Hesse, Horst-Peter

Musik und Emotion

Wissenschaftliche Grundlagen des Musik-Erlebens

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Springer, Wien 2003
erschienen in: das Orchester 03/2004 , Seite 76

Der Titel des Buchs verspricht viel. Nachdem im vergangenen Jahrzehnt das Denken, die Kognition, im Vordergrund standen, wird jetzt das Fühlen zum Hauptthema in der Neurowissenschaft und Psychologie. Auch die Musik als machtvolles Medium Emotionen auszulösen ist zum beliebten Thema geworden. Das Standardwerk zum Thema wurde im Jahr 2001 von Patrick Juslin und John Sloboda veröffentlicht (Music and Emotion, Oxford).
Die Erwartungen sind also hoch: endlich eine deutschsprachige Publikation, die uns die Macht der Musik in der Welt der Gefühle wissenschaftlich erklärt. Doch groß ist das Erstaunen, wenn man feststellt, dass von Emotionen reichlich wenig die Rede ist – genau gesagt widmen sich zehn der 198 Seiten diesem Thema. Noch mehr irritiert, dass die zahlreichen Forschungsergebnisse der musikpsychologischen Kollegen zu diesem Thema von Horst-Peter Hesse überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden. Die bahnbrechenden neueren Arbeiten von John Sloboda oder Alf Gabrielson beispielsweise fehlen, englischsprachige wissenschaftliche Literatur seit den 90er Jahren wird bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr einbezogen. Selbst die berühmte Arbeit von Jaak Panksepp zu den Gänsehaut-Erlebnissen beim Musikhören aus dem Jahr 1995 wird nicht erwähnt, obwohl Panksepp zeitweise an derselben Universität wie der Autor gelehrt hat.
Die ersten 100 Seiten des Buchs geben einen Überblick zu allgemeinen psychologischen Themen. Sie handeln von Neuronen und Hormonen, von Bewusstsein, von Entwicklung und von einer eigenartigen Privatphilosophie über die „Schichten der Persönlichkeit“, in der Triebe, Gefühle, Emotionen, Affekte und Stimmungen in verwirrender Weise  zusammengemischt werden. Das alles befindet sich nicht auf dem neuesten Stand. So wird zum Beispiel bei der Behandlung der Beziehung zwischen musikalischer und sprachlicher Intelligenz als einzige Quelle eine Doktorarbeit aus den 80er Jahren herangezogen, obwohl dieser Aspekt in den vergangenen fünf Jahren Gegenstand intensiver musikpsychologischer Forschung war – die zeigte, dass nur in Ländern, in denen tonale Sprachen gesprochen werden (beispielsweise in China), musizierende Kinder ein verbessertes Wortgedächtnis haben. Im zweiten Teil des Buchs befasst sich Hesse zwar mehr mit dem Musik-Erleben und äußert sich zu den psychoakustischen Grundlagen von Zeit- und Harmoniewahrnehmung, aber auch hier referiert der Autor überwiegend den Wissensstand der 80er Jahre.
Insgesamt verdichtet sich beim Lesen der Eindruck, dass sich der Autor vor spätestens 20 Jahren aus dem wissenschaftlichen Diskurs seiner Fachdisziplin ausgeklinkt hat. Es bleibt nur zu sagen: ein überflüssiges Buch.
Eckart Altenmüller