Breidenstein, Helmut

Mozarts Tempo-System

Ein Handbuch für die professionelle Praxis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schneider, Tutzing 2011
erschienen in: das Orchester 07-08/2012 , Seite 67

Warum schlagen wir im ersten Giovanni-Akt etliche mit 4/4 bezeichnete Nummern – 1/I, 2, 4, im Finale Allegro assai („Gente ajuto!“) – in 2 und einige mit Alla breve bezeichnete – 1/II, 9 – in 4? Abgesehen davon, dass Vorzeichnung nicht gleich Schlagart ist, gehören Fragen von Tempo und Taktvorzeichnung in klassischer Musik unter Praktikern zu den meistdiskutierten. Dabei kommt zutage, dass auch hier mehr verlorene Selbstverständlichkeiten im Spiel sind, als wir meinen. Die „Zeit der tempi ordinari“ sei vorbei, hat Beethoven festgestellt und zwischen der Vortragsweise seiner Zeit und der der Vorgänger so nachdrücklich unterschieden, dass man einen heute kaum nachvollziehbaren Paradigmenwechsel vermuten muss. Mozarts Anweisungen belegen, sofern man sie genau gegen die differenzierten Strukturen verrechnet, das Zurücktreten normativer Anhaltspunkte.
Hier hilft nur ein Vergleich, der, über die Konstellation von Takt- und Tempobezeichnung weit hinausgehend, alle Aspekte bis hin zu szenischen und spieltechnischen einbezieht. Dem widmet sich ebenso detailliert (420 Kategorien!) wie anschaulich (392 Notenbeispiele!) das vorliegende Buch, die Lebensarbeit eines auch theoretisch kompetenten Praktikers. An dieser Stelle kann es nur angezeigt, nicht wertend rezensiert werden: weil angesichts derart minutiöser und umfassender Kleinarbeit jegliches Detailurteil anmaßend erscheint; weil der Rezensierende, in Einzelfragen vom Autor befragt, nicht pro domo reden will; und weil die Untersuchung als Work in Progress angelegt ist, als Kompendium, worin Material und Kriterien für eigene Entscheidungen möglichst vollständig zur Verfügung stehen – bis hin zu den auf 110 Seiten versammelten zeitgenössischen Zeugnissen.
Helmut Breidenstein verordnet nicht, sondern vergleicht. Metronomzahlen spielen kaum eine Rolle, die Kategorien in der am ehesten vergleichbaren Untersuchung Rudolf Kolischs zu Beethoven stellen sich übersichtlicher dar, jedoch starrer und weniger individuell behandelt. Hier jedoch – dies fast ein Einwand gegen den Buchtitel – redet der Praktiker allemal lauter als der Systematiker, bei Charakteristiken ebenso wie spieltechnischen Aspekten: „Bei den häufig zu hörenden MM Halbe = 126 kann kein Orchester in Takt 473 mehr 32stel spielen“ (S. 98, es geht um das erste Giovanni-Finale); „Im Terzett Nr. 7 Figaro (,Cosa sento!‘) sind die verlogen sich windenden Legato-Halben Basilios (,in mal punto‘, 16 und ,Ah del paggio‘, T. 85) und sein schleimig-maliziöses Händereiben (T. 175) eigentlich langsame Gesten“ (S. 99).
„Dieses Buch“, so der Autor im Vorspruch, „behauptet nicht, die einzig richtigen Tempi… zu kennen“ und lädt ausdrücklich zu weiterführenden Diskussionen ein. Leichter als hier kann es dem Interessierten nicht gemacht werden, zu eigenen und solide begründeten Lösungen zu kommen. Er sollte es dem Autor durch häufige, eingehende Lektüre danken.
Peter Gülke
www.mozarttempi.de