Lachmayer, Herbert (Hg.)

Mozart. Experiment Aufklärung

im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Essayband

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hatje Cantz, Ostfildern 2006
erschienen in: das Orchester 09/2006 , Seite 81

Wenn man den schwergewichtigen Band mit seinen fast 900 Seiten in die Hand nimmt, können durchaus zwiespältige Gefühle aufkommen: Wer soll das alles lesen? Wann soll man das lesen – während, vor oder nach der zugehörigen Ausstellung? Um dieses Kompendium einer Epoche würdigen zu können, benötigt man vor allem Zeit, Ruhe und Geduld. Dann allerdings stellt sich der Eindruck eines überaus reichen Kaleidoskops einer geistesgeschichtlichen Epoche ein, die keinesfalls allein durch die Lichtgestalt des Komponisten Mozart bemerkenswert wurde. Nicht weniger als 96 Essays von mehr oder weniger bekannten Autoren unterschiedlichster Disziplinen sind hier versammelt und fügen sich zu einem imponierenden Spektrum der Jahrzehnte vor der Wende zum 19. Jahrhundert.
Dieses schriftstellerische Ensemble kann man auf verschiedene Art und Weise zu sich nehmen. Man kann in ihm blättern und schmökern, man kann sich ihm aber auch systematisch nähern, indem man nach Themenkreisen vorgeht: beispielsweise auf der Suche nach gesellschaftlichen Hintergründen, erforscht etwa in „Demokratie und Privatheit“ von Rosemarie Burgstaller oder in „Gesellschaft, Staat und Wirtschaft im österreichischen Spätmerkantilismus“ von Peter Rosner – zwei von zahlreichen lesenswerten musikfernen Beiträgen. Geht man diesen Weg weiter – nun auf der Suche nach mancherlei Kuriosa jener Epoche, in der Mozart lebte –, dann darf man sich an einem originellen „Versuch über die Schaukel“ von Ernst Strouhal erfreuen, oder man lässt sich von John A. Rice über „Musik im Kaffee-Zeitalter“ informieren. Auch so profane Dinge wie „Die Hausnummern zur Zeit Mozarts“, vorgeführt von Anton Tantner, werden auf einmal lebendig, und vermeintlich an den Rand der Gesellschaft begeben wir uns, wenn wir von Andrea Traxler belehrt werden: „Bordelle sind in Wien nothwendig“!
Teils zwischen derartigen Absonderlichkeiten vergesprengt, teils aber auch blockartig zusammengefasst finden sich natürlich auch zahlreiche Aufsätze zu musikalischen Einzelaspekten – manche direkt auf Mozart bezogen, manche seiner Herkunft oder seiner Nachwirkung verpflichtet (bis hin zu „Mozart als Ikone des Nationalsozialismus“ von Eric Levi). Insbesondere etliche auf das Musiktheater bezogenen Ausführungen sind lesenswert. Michael Lorenz fasst präzise und dezidiert die aktuellen Erkenntnisse zur Entstehung und Widmung von Mozarts erstem Klavierkonzert zusammen („Mademoiselle Jeunehomme“); mehrere Autoren beschäftigen sich erhellend mit Mozarts Beziehung zu älterer Musik (Philipp Adlung in „Mozart und die Bachs“ und Otto Biba mit „Mozart und die ‚Alte-Musik‘-Szene in Wien“). In gewohnt unterhaltender und zugleich konzentrierter Manier äußert sich der Germanist und Grenzgänger Wolfgang Borchmeyer über „Mozarts Hanswurstiaden“.
Dass es auch den einen oder anderen Schwachpunkt in einem derart gewichtigen Buch geben muss, versteht sich. Eher beiläufig und unfreiwillig ergibt sich hier unter der verdienstvollen Herausgeberschaft von Herbert Lachmayer eine Versammlung der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Jargons mit all ihren Gespreiztheiten und Banalitäten (Pars pro Toto bei Sonia Horn: „Man ging von einem ‚dynamischen‘ Gleichgewicht aus, das auch die Fähigkeit inkludierte, auf Veränderungen zu reagieren“). Doch auch dies gehört zur Freiheit interdisziplinärer Wissenschaft, die sich hier in all ihrer bunt schillernden Farbigkeit präsentiert.
Arnold Werner-Jensen