Harnoncourt, Nikolaus
Mozart Dialoge
Wirkliche Harnoncourt-Fanatiker kennen dieses Buch bereits in all seinen Einzelteilen. Doch da der Berliner nie Kult-Dirigent im Stil eines Karajan war (unter dessen Leitung er als Cellist der Wiener Symphoniker spielte), dürfte diese Art von Fangemeinde, die jede Platte kennt, jedes Interview sammelt und jede noch so kleine Äußerung des Maestro ins Poesie-Album der Musik einklebt, relativ gering sein. Nein, Harnoncourt hat eher kritische, wache, denkende Hörer, die seiner Arbeit interessiert folgen und ihn als musikalische Persönlichkeit schätzen, vielleicht verehren, aber kaum vergöttern. Insofern ist diese Publikation ein Gewinn, da sie Interviews und Texte zu Konzertprogrammen und Einspielungen seit den 70er Jahren versammelt, die alle sehr verstreut erschienen sind.
Der Meister warnt vor der Meinung, jemand könne die Wahrheit für sich gepachtet haben. Allen Gurus steht er äußerst kritisch gegenüber: So gut wir anscheinend erkennen können, was falsch ist, so schlecht lässt sich das Richtige definieren
Nur der besonders raffinierte Schwindler widerspricht sich nie, sagte er zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1995. Jede Generation, jede Zeit kennt ihre eigene Wahrheit, erläuterte er hier weiter, und nichts, was heute als gültig im Sinne eines gesellschaftlich abgesicherten Geschmacks angesehen wird, wird morgen noch als solches anerkannt sein.
Vor allem aber seine Gespräche, die in Spiegel, Zeit, FAZ, Musik und Theater, der Opernwelt, der Österreichischen Musikzeitschrift und vielen anderen Organen erschienen sind, sind heute äußerst aufschlussreich und lassen oft einen pessimistischen Grundton erkennen: Der Orchestermusiker ist notwendigerweise durch seinen Beruf ein verzweifelter Mensch, hieß es in der Zeit (1997), und er beklagt, dass der Enthusiasmus, mit dem der junge Musiker seine Stelle antritt, rasch durch eine auf Sicherheit getrimmte Routine ersetzt wird: Es gibt da ein Entweder-Oder, das heißt: Schönheit oder Sicherheit. Jedes Mehr an Sicherheit muss bezahlt werden mit Schönheit. Das sind schlimme Verluste.
Er selbst gestand 2001: Ich habe ja meine Orchesterstelle verlassen wegen der g-Moll-Symphonie von Mozart, weil die immer so gespielt wurde, dass die Leute die nur hübsch und nett fanden
Wieso wird hier eine Symphonie so dahinplätschernd gespielt, die die Hörer zu Mozarts Zeit bis ins Innerste aufgewühlt hat, bei der damals gefragt wurde: Darf man so eine Musik komponieren
?
In vielen Interviews geht der Dirigent auf musikalische Detailfragen ein, etwa zur Instrumentation (Wagner schrieb einige frühe Opern um, weil die neuen, weit mensurierten Posaunen nicht seinem Klangideal entsprachen), zum Tempo (das Andantino wurde um 1810 ins Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt und plötzlich schneller, nicht wie zuvor langsamer als ein Andante gespielt) oder zu Retuschen (René Leibowitz instrumentierte für seine berühmten Beethoven-Aufnahmen ganze Passagen um). Er gesteht auch offen, dass er mit verschiedenen Komponisten seine Schwierigkeiten hat, da er bei ihnen jenen Musenkuss vermisst, der eine Affenintelligenz erst in menschliche Intelligenz verwandelt: Dazu zählen für ihn etwa Lully, Gluck, Berlioz oder Schönberg, während er beispielsweise in der modernen Musik jede Note von Alban Berg oder Béla Bartók liebt (inzwischen wurden diese Komponisten auch von ihm aufgeführt).
Vor allem im zweiten und dritten Teil dieses Buchs stehen allerdings Mozarts Werke im Mittelpunkt der Betrachtungen. Es ist wundervoll, diese Texte und Gespräche zu lesen. Zu allen Fragen von Interpretation und Stil, Instrumentation und Urtext stellt sich hier mit Harnoncourts Leichtigkeit und Tiefgründigkeit ein Gefühl von Annäherung ein, eine Annäherung an das, was trotz aller Neu- und Umdeutung bleiben wird. Denn eines ist gewiss und Harnoncourt weiß es zu formulieren: Wir haben einen Schiedsrichter, der immer Recht hat: Mozart.
Matthias Roth