Kolbe, Corina

Mit Kindern auf Tournee

Wie das "freie" Mahler Chamber Orchestra Familien entgegenkommt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 06/2011 , Seite 24
Nicholas, Tamar, Mathilde und Miranda haben schon viel von der Welt gesehen. Wie andere Kinder von Musikern des Mahler Chamber Orchestras (MCO) sind auch sie oft bei Tourneen dabei. Das frei finanzierte Projektorchester mit rund 40 Mitgliedern aus 20 verschiedenen Ländern ist seit seiner Gründung 1997 fast ständig auf Reisen. Die meisten Musiker sind inzwischen in einem Alter, in dem der Gedanke an eine eigene Familie immer weiter in den Vordergrund rückt. Da alle mit Begeisterung bei der Sache sind und ihre gewachsene Orchestergemeinschaft erhalten wollen, sind bedarfsgerechte Regelungen gefragt, um Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. In dieser Hinsicht könnte das erfolgreiche MCO-Modell auch öffentlich finanzierten Kulturorchestern neue Denkanstöße liefern.

Die Mitglieder des Mahler Chamber Orchestras (MCO) haben gemeinsam entschieden, dass sie Eltern Babypausen ermöglichen und den Wiedereinstieg in organisatorischer und finanzieller Hinsicht erleichtern wollen. Die Mitglieder des MCO sind allesamt Selbstständige, die wie ihre festangestellten Kollegen in anderen Orchestern zwar Elterngeld beziehen können. Einen Rechtsanspruch auf Elternzeit – den früheren „Erziehungsurlaub“ – haben sie jedoch nicht. Diese Lücke hat das Mahler Chamber Orchestra durch interne Abmachungen geschlossen. Normalerweise müssen MCO-Musiker laut GbR-Vertrag mindestens die Hälfte aller Konzerte einer Saison spielen, um ihren Mitgliederstatus zu behalten. Von dieser Auflage sind junge Mütter oder Väter in den ersten drei Jahren befreit.
Intendant Andreas Richter erinnert sich daran, dass das Regelwerk kurz nach seinem Amtsantritt vor vier Jahren erarbeitet wurde. „Vorher war von Projekt zu Projekt neu entschieden worden, wie weit Eltern logistisch unterstützt werden – etwa durch Unterbringung in einem Apartment statt im Hotelzimmer.“ Inzwischen erhalten Eltern kleiner Kinder einen pauschalen Aufschlag auf die Tagesgage, damit zusätzliche Ausgaben für die Kinderbetreuung nicht vollständig zu Lasten des Familienbudgets gehen. Das Management versucht, die Mitwirkung von Eltern durch geschickte Planung zu erleichtern.
Spätestens drei Monate vor dem Beginn eines Projekts müssen die MCO-Mitglieder über eine Teilnahme entschieden haben. Bei aufwändigen Opernproduktionen oder längeren Tourneen wird sogar oft schon sechs Monate im Voraus eine verbindliche Zusage erforderlich. Nach den Erfahrungen des Orchesters haben sich auch Eltern bisher gut darauf einstellen können. Die eigentliche Konzertplanung steht ohnehin wie bei anderen Orchestern auch mehrere Jahre im Vorhinein fest.
Dank seiner besonderen Struktur kann sich das MCO, dessen Mitglieder an allen Entscheidungen beteiligt sind, neuen Situationen flexibel anpassen. „Das Orchester hat ein Interesse daran, in einer möglichst konstanten Besetzung zu spielen“, erklärt Richter. „Individuelle Interessen müssen dazu mit den Gesamtinteressen des MCO in Einklang gebracht werden.“ Einen Vorteil für Eltern sieht Richter auch darin, dass sich Stellen in einem Orchester leichter „splitten“ lassen, als dies in vielen anderen Berufssparten der Fall sein mag.

Hotelzimmer für den Babysitter und Pläne für die Zukunft
Die Bratschistin Susanne Linder, die zwei Töchter hat, machte mit den Regelungen beim MCO bereits gute Erfahrungen. „Als meine erste Tochter Klara ein Jahr alt war, habe ich schon wieder einige Konzerte gespielt. Das hat gut geklappt und großen Spaß gemacht.“ Ihr Mann, der dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) angehört, ging teilweise in Elternzeit und konnte seine Frau daher mit dem Kind auf den meisten Reisen begleiten. Nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter legt die Musikerin noch eine Pause ein und will dann entscheiden, in welchem Umfang sie wieder in den Konzertalltag einsteigen kann.
Ihre Kollegin, die Geigerin Annette zu Castell, ist die Mutter des kleinen Nicholas. Als das Kind zweieinhalb Monate alt war, beteiligte sie sich im vergangenen Oktober erstmals wieder an einem MCO-Projekt. Auch Castell, die das Orchester seinerzeit mitgegründet hatte, ist sehr zufrieden darüber, dass die internen Regelungen je nach Bedarf geändert werden können. „Unserer niederländischen Kollegin Paulien Holthuis, die als eine der ersten Frauen im Orchester ein Kind bekam, haben wir viel zu verdanken. Sie hat uns den Weg geebnet“, lobt Castell. Holthuis nahm ihre Tochter Tamar häufig auf Konzertreisen mit und machte dabei Vorschläge, wie man Musikeltern den Alltag erleichtern könnte. Als das Lucerne Festival Orchestra, dessen Herzstück das MCO bildet, im Herbst 2009 unter Leitung von Claudio Abbado in Beijing auftrat, bekam Tamar ausnahmsweise schulfrei und berichtete ihren Klassenkameraden in einem Blog von ihren Erlebnissen in China.
Für Säuglinge seien solche weiten Tourneen dagegen eher ungeeignet, meint Linder. Sie findet es ideal, dass das Mahler Chamber Orchestra bei seinen Residenzen in Ferrara und Nordrhein-Westfalen sowie während des Lucerne Festivals länger an einem Ort oder in einer Region ist. Die Betreuung durch mitreisende Partner oder Großeltern lässt sich dort außerdem kostengünstiger organisieren als auf teuren Überseetourneen. Sind beide Eltern Mitglieder des MCO, werden ihnen immer zwei Hotelzimmer gestellt, sodass bereits für eine Unterbringung des Babysitters gesorgt ist.
Schwierig werde es spätestens dann, wenn die Kinder zur Schule kämen, meinen die Musikerinnen. Bereits in Deutschland weichen die Ferienzeiten von Bundesland zu Bundesland ab. Beim MCO ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Mitglieder in verschiedenen Ländern leben. Die familienfreundlichste Phase des Jahres ist zweifelsohne das Lucerne Festival im August. „In der Schweiz ist immer eine große Kinderschar mit von der Partie“, berichtet Castell. „Wir merken, dass Kinder, die bei vielen Konzertreisen dabei sind, sehr offen sind. Sie bekommen mehr mit als andere Gleichaltrige.“
Das letzte Wort in Sachen Kinderbetreuung ist beim Mahler Chamber Orchestra mit Sicherheit noch nicht gesprochen. Die Musiker hätten bereits überlegt, eine professionelle Kinderbetreuung während der Tourneen zu organisieren, sagt Castell. Das Orchester gastiere regelmäßig in Städten wie Dortmund, Ferrara und Luzern. Vielleicht sei es möglich, bestehende Babysitter-Netzwerke am Ort zu nutzen oder eine Betreuung dorthin mitzunehmen. „Bis jetzt übernehmen meist die Partner diese Aufgabe. Das geht nicht mehr, wenn wie in meinem Fall beide Elternteile im Orchester spielen. Auch bei den anderen kann immer mal etwas dazwischen kommen“, gibt sie zu bedenken.
Eine mögliche Koppelung der Kinderbetreuung an Education-Projekte an bestimmten Orten halten die Musikerinnen ebenfalls für denkbar. Schließlich engagiert sich ihr Orchester für breite musikalische Bildung und arbeitet u.a. in Nordrhein-Westfalen mit dem Programm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) zusammen. „Viele Kollegen machen zurzeit ähnliche Erfahrungen wie wir, also suchen wir gemeinsam nach Lösungen“, betonen die beiden Musikerinnen. Die Internationalität des MCO empfinden sie dabei als großen Vorteil: „Vergleiche mit Erfahrungen, die Eltern in anderen Ländern bei der Kindererziehung machen, können für uns sehr bereichernd sein.“