Oehring, Helmut

Mit anderen Augen

Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: btb, Berlin 2011
erschienen in: das Orchester 02/2012 , Seite 64

Persönliche Erinnerung: Aachen 2002, Uraufführung von Helmut Oehrings BlauWaldDorf. Über die taubstummen Darstellerinnen war man informiert, die gehör- und sprachlosen Jugendlichen im Publikum waren indes eine unerwartete Begegnung. Statt Beifall Winken, eine äußerst fröhliche Reaktion, Gegensatz zum ernsten Sujetkern der „Oper“, Hans Christian Andersens Märchen über eine aus Liebe stumm gewordene Seejungfrau.
Helmut Oehring, als Kind gehörloser Eltern 1961 in der DDR geboren, wuchs hermetisch in der Atmosphäre von Stummsein auf. Erst später lernte er, nicht ohne Widerstand, das Sprechen. Damit übernahm er automatisch die Pflicht, zwischen der akustisch toten Welt der Eltern und dem sprachlauten Normalleben zu vermitteln. Freilich ist die auf visuelle Eindrücke fixierte Gebärdensprache ein wichtiger, unverzichtbarer Teil von Oehrings Persönlichkeit geblieben und hat seiner Autobiografie ihren (auf den ersten Blick etwas irritierenden) Titel gegeben: Mit anderen Augen.
Das Buch entstand, durchaus zögerlich, als „Auftragswerk“. Schriftliche Äußerungen Oehrings waren bislang nur in Form von Noten oder Gedichten erfolgt. „Meine Lyrik verwandelt die Grammatik der Gebärdensprache in Lautsprache um“, so eine Interview-Äußerung. Dass seine Lebensgeschichte nicht linear chronologisch ausgefallen ist, sondern mit manchmal ausschweifender verbaler Lautmalerei und assoziativem Gedankenreichtum durchsetzt ist, wirkt außerordentlich fesselnd, aber auch bestürzend in der Bekenntnis-Ehrlichkeit, obwohl man sich an die Härte und Drastik mancher Formulierungen gewöhnen muss. Dies gelingt vor allem dann, wenn man sich bewusst macht, dass der Autor über Dinge spricht, „die ich bisher noch keinem anvertrauen konnte“. Dazu gehört beispielsweise die Grausamkeit, welche er durch Mitschüler erfuhr und an im Laden gekaufte Tiere weitergab.
Die musikalische Entwicklung Oehrings verlief gleichfalls nicht geradlinig aufbauend. Der Hobby-Gitarrist war zunächst im Pop-Bereich zu Hause, bis er (ohne Sympathieverlust) merkte, dass ihm diese Welt musiksprachlich und emotional nicht ausreichte. Béla Bartóks Streichquartette, die er durch geklaute (!) Schallplatten kennen lernte, führten ihn in neue Bereiche und letztlich zu seinem heutigen Erfolg als Komponist. Dass Oehrings Fantasie durch konkrete Erlebnisse stimuliert wird, erklärt, warum er relativ viel für den Film und die Bühne schreibt. Bei seinen für das Jahr 2013 zu erwartenden Werken Vom fliegenden Holländer (Arbeitstitel für die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf) und Mittsommernacht (mit Rückgriff namentlich auf Shakespeare, Schillertheater Berlin) wird sich weiterhin die Neigung des Komponisten manifestieren, auf musikalische wie literarische Traditionsmuster zurückzugreifen und diese mit gebärdensprachlicher Einfärbung für die Jetztzeit aufzubereiten. Dieser Komponist lässt nicht kalt.
Christoph Zimmermann