Widmann, Jörg
Messe für großes Orchester / Fünf Bruchstücke für Klarinette und Klavier / Elegie für Klarinette und Orchester
Schon nach ein paar Takten ist der Hörer im Bann dieser Musik. Emotional, fast spätromatisch in ihrer Expressivität, anscheinend frei in ihren festen, uralten Formen, groß besetzt und trotzdem auf kleinste Klangbausteine in kammermusikalischer Besetzung zurückgehend Musik, die weder in die Schublade der Genres noch zwingend in eine bestimmte Epoche gesteckt werden kann.
Jörg Widmann hat mit dieser Messe für großes Orchester (2005) ein umfangreiches Werk vorgelegt, das sowohl an Britten als auch an Henze erinnert und auch Passagen aufweist, die einem guten Spielfilm als Filmmusik die letzte Größe geben könnten. Kitschig wird es dabei nicht, mag das Blech auch noch so programmatisch loslegen, die Streicher noch so sehr jubilieren. Denn die Deutsche Radio Philharmonie unter Christoph Poppen sorgt für disziplinierte Emotionalität und lässt die wortlose Eloquenz des Werkes meist schlank erscheinen. Ein paar Beispiele: Contrapunctus II arbeitet sich von hohen Streichern runter bis in tiefste Blech, ein bisschen düster, aber imposant. Interludium III folgt mit viel Schlagwerkkünsten, schön im Kontrast zum Vorgänger. Das folgende Antiphon ist wieder ein Fest der Blechbläser. Mittelalterliche Formen kommen permanent ins Spiel, doch sind sie logisch und nahtlos ins Geschehen einer neuen Komposition gefügt. Überraschend ist nach all den vielen Tönen die Sprachlosigkeit des leisen, ruhigen Crucifixus: Unheimlich wirkt hier dieser sehr bewusste Verzicht auf den großen Klang. Aus den vielen effektvollen, aber nie koketten Sätzen entsteht ein großes Stück Klangkunst etwas schwer verdaulich aufgrund seiner inhaltlichen Fülle und höchst emotionaler Stimmungsintensität, aber dafür umso nachhaltiger durch musikalische Qualität.
Der großen Messe folgen kleine Fragmente (Fünf Bruchstücke, 1997) für nur zwei Instrumente: Jörg Widmann an der Klarinette und Heinz Holliger, hier am Klavier, zaubern. Neue Spieltechniken auf der Klarinette, das präparierte Klavier und das Miteinander (manchmal auch gewollte Gegeneinander) der beiden Musiker beeindrucken. Im vierten Fragment dürfen beide einmal so richtig an die Grenzen ihrer Instrumente gehen ein virtuoser Spaß, gekrönt mit der in höchsten Höhen tanzenden Klarinette. Dem folgt ein langsamer fünfter Satz mit blitzsauberen Vierteltönen. Eine Menge Humor, viel Virtuosität und hörbare Freude am Zusammenspiel lassen hier ein kleines, aber sehr feines Werk entstehen.
Die Elegie (2006) ist ein ausgewachsenes Klarinettenkonzert der spieltechnisch schwierigen Art. Widmann bläst es, selbstverständlich, hervorragend, und das Orchester ist ihm ein aufmerksamer, selbstbewusster Partner. Es wimmelt vor Mikrotönen und haarsträubenden Läufen, dem Aufschrei folgt meist aber eine melodisch interessante Kantilene. Insgesamt wirkt dieses Werk wie ein langes, expressives Lied.
Vom Zuhörer erfordert diese sehr gelungene CD, um in ihrer ganzen komplexen Gestalt genossen werden zu können, allerdings beide Ohren.
Heike Eickhoff