Reimann, Aribert

Melusine

Oper in vier Akten, 2 CDs

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6719 2
erschienen in: das Orchester 02/2011 , Seite 77

Aribert Reimann hat ein Faible für Texte und Dramen der Weltliteratur, er besitzt ein Gespür für Stimmen und er ist ein Erfinder exquisiter Klänge und Farben. Beliebigkeit liegt ihm nicht. Die Stoffe, Figuren und Anliegen seines Musiktheaters fangen alles ein, „was uns heute angeht, was auf der Welt passiert“. Und so beschränkt sich Reimann in seiner zweiten Oper Melusine, die 1970 entstand, 1971 in Schwetzingen uraufgeführt wurde und deren Libretto Claus H. Henneberg nach dem Schauspiel von Yvan Goll verfasst hat, nicht auf die geheimnisvolle Welt der Nixen- und Elfen. Er nutzt die Mischung von Märchen-Naivität, Alltagsprosa und Thriller, um eine „Parabel über die Unzulänglichkeit des Lebens“ zu gestalten und das Zauberreich „zur Umweltschutz-Parabel“ (Ulrich Schreiber) zu stilisieren.
Melusine, das unberührbare Wasser-Wesen, fühlt sich im verwunschenen Park heimisch, im bürgerlichen Heim und ihrer Ehe fremd. Stolz, kalt, voller Hass reagiert sie auf die Geschäfte ihres Mannes und das Geschehen, die ihren wunderbaren Lebens(t)raum zerstören. Sie betört die Männer, die ihn antasten, stürzt sie in Wahnsinn, Selbstmord und Mord. Bis sie selbst der Schönheit und Klugheit des Grafen verfällt, dessen prächtigem Schloss der Park weichen musste. Aus der „Traum-Frau“ wird ein Mensch. Feindschaft wandelt sich zur großen Liebe. Doch die Abkehr von der Wasser-Welt wird als Verrat bestraft: Sie und der Graf erleiden einen Liebes-Feuer-Tod.
Mit Sprache und Sprechgesang, Melismen und Koloraturen erschafft Reimann ein umfangreiches vokales Spektrum, das die Charaktere, Beziehungen und Wandlungen der Figuren differenziert erfasst. Und den 33 Spielern im Orchester vertraut er jene Vielfalt klanglicher Erscheinungen an, zu der sich sensible Wasserspiele und züngelnde Flammenbewegungen, irisierende „Leitklänge“ und lyrische Stimmungsbilder, zarte Farben und kräftiges Unisono und das herrliche Liebesduett vereinen. Der eindrucksvolle Opernschluss bringt dann die Hektik und Aggressivität durch Poesie und wunderbare Kantilenen zur Ruhe. Reimanns Musik will und kann ihre Affinitäten zu den fantasievollen Impressionen von Debussys Melisande, zur leidenschaftlichen „Liebes-Musik“ der Lulu Bergs und den „Naturtönen“ im Wozzeck nicht verleugnen; er zeigt sich in der Tradition eines Musiktheaters, die er seinerseits bis heute weiterführt.
Fast vier Jahrzehnte nach der Uraufführung und einer Reihe von Inszenierungen liegt nun die Welt-Ersteinspielung der Oper vor. Aufgenommen wurde die Premiere am Staatstheater Nürnberg vom 12. Mai 2007. Unter der Leitung von Peter Hirsch am Pult der Nürnberger Philharmo­niker und mit einer atemberaubenden Marlene Mild – als frappierend virtuose und wandlungsfähige Melusine – präsentiert sich ein hochpotentes und rundum überzeugendes Künstlerensemble. Es lässt ein Musiktheater-Ereignis nachklingen, das von Helen Malkowksy aktuell inszeniert wurde und das die Kraft und die Schönheit von Reimanns Musik voll zur Geltung bringt.
Eberhard Kneipel