Melodramen
von Schumann, Liszt, Strauss und Ullmann
Runde Geburtstage sind für Tonträgerfirmen ein willkommener Anlass, nicht nur neue Einspielungen auf den Markt zu bringen, sondern auch Schätze aus den Archiven zu heben. Die Deutsche Grammophon hat zum 80. Geburtstag Dietrich Fischer-Dieskaus gleich mehrere Sets mit CDs und DVDs herausgebracht, wobei die auf neun CDs dokumentierten frühen Aufnahmen der Jahre 1949 bis 1974 mit deutlichem Schwerpunkt auf den fünfziger Jahren im Mittelpunkt stehen.
Sie bieten insgesamt ein eindrucksvolles Panorama der Vielseitigkeit des Sängers, der ja nicht nur die fest im Repertoire verankerten Lieder und Opernpartien auf neue Weise interpretierte, sondern sich auch ständig um weitgehend unbekannte Werke bemühte, wie die hier nochmals veröffentlichten frühen Goethe-Vertonungen von Reichardt, Zelter und weiteren Zeitgenossen oder auch die Auswahl von Meyerbeer-Liedern eindrucksvoll belegen.
Trotz ihrer teilweisen technischen Mängel können gerade diese frühen Aufnahmen auch heute noch eindringlich vorführen, warum der Bariton zu einer Leitfigur für die moderne Gesangskultur geworden ist, denn hier kommen die Qualitäten seiner unverwechselbaren Stimme am besten zur Geltung. Die präzise Aussprache und Artikulation sowie der auf den Wortsinn subtil eingehende Vortrag zeigen sich exemplarisch in den Einspielungen von Frank Martins Monologen aus Jedermann, die verblüffende Wandlungsfähigkeit und die Geschmeidigkeit der Stimme vor allem im piano-Bereich demonstrieren etwa die Aufnahmen von Henzes Neapolitanischen Liedern.
Fischer-Dieskaus Grenzen markiert die früheste Aufnahme, eine Einspielung von Brahms Vier ernsten Gesängen mit der Pianistin Hertha Klust aus dem Jahr 1949. Hier mangelt es dem Sänger in einigen Passagen schlichtweg an sonorer Stimmgewalt. Im Gegenzug dürfte ihm die jederzeit verständlich bleibende Virtuosität in Orffs Carmina burana oder den feinsinnigen Humor in Schumanns Ein Jüngling liebt ein Mädchen so leicht niemand nachmachen.
Neben dem Lied- kommt auch der Opernsänger Fischer-Dieskau reichlich zu Gehör. Ob die Auswahl der Einspielungen, an der laut Vermerk des Texthefts der Interpret selbst beratend mitwirkte, immer glücklich genannt werden darf, steht jedoch in Frage. Neben immer noch sehr Hörenswertem wie der deutschsprachigen Aufnahme von Glucks Orpheus und Eurydike begegnen auch Ausflüge in Bereiche, die Fischer-Dieskaus Stimmcharakteristik wenig entsprechen, so die Koloraturen in Händels Arien aus Giulio Cesare, die bei dem leicht näselnden Timbre des Baritons kaum erträglich sind, oder auch der missglückte Auftritt als Escamillo aus Bizets Carmen mit dem berühmten Toréador, en garde, der fast wie eine unfreiwillige Karikatur wirkt, wozu auch die Schwierigkeiten mit den französischen Nasallauten beitragen. Am Ende der letzten CD wartet dann noch etwas Besonderes auf den Hörer: die Wiederveröffentlichung der von ihm selbst erzählten Lebensgeschichte aus dem Jahr 1960.
Ergänzend zu dieser Box kommt im dreiteiligen Set An die Musik endlich auch der Schubert-Sänger Fischer-Dieskau zur Geltung, mit dessen Liedinterpretationen er ja besonders bekannt geworden ist. Diese waren und sind bis heute maßstabsetzend, was das Ausdrucks- und Vortragsspektrum angeht. Sowohl einige Repertoire-Überschneidungen wobei die hier enthaltene Stereo-Aufnahme von Schumanns Dichterliebe mit Jörg Demus von 1965 insgesamt überzeugender als die Mono-Einspielung von 1957 in den Early Recordings ausfällt als auch die beigegebene DVD mit einem Schubert-Recital von 1978 weisen darauf hin, dass diese Veröffentlichung auf eine andere Käuferschicht abzielt. Sie will keinen Einblick in die Vielfalt der Partien und Rollen geben, sondern konzentriert sich auf die Höhepunkte von Fischer-Dieskaus Repertoire, auf Marksteine seiner Karriere und makellose Aufnahmen wie die von Wolframs Lied an den Abendstern aus Wagners Tannhäuser (1968/69) vermögen diesen Anspruch zu unterstreichen.
Wer Fischer-Dieskau schon einmal als Rezitator erleben konnte, weiß, wie sehr er dabei in seinem Element ist. Nach dem Abschluss seiner Sängerkarriere 1992 war er bevorzugt als Sprecher und Vorleser tätig auch dies inzwischen durch eine Vielzahl von Aufnahmen dokumentiert. Insofern war es nahe liegend, ihn 2003 für Einspielungen von Melodramen zu gewinnen. Schon der Repertoirewert der beiden CDs ist ungewöhnlich hoch, denn neben Richard Strauss Enoch Arden und Victor Ullmanns Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke sind auch die drei Deklamationen mit Begleitung von Schumann (Schön Hedwig, Ballade vom Heideknaben, Die Flüchtlinge) sowie zwei von Franz Liszt (Der traurige Mönch und Lenore) enthalten. Als besondere Höhepunkte innerhalb einer Gattung, die per se Fischer-Dieskaus Talent und Neigung entgegenkommen, ragen die Werke mit subtil nuancierten Dialogen wie die Ballade vom Heideknaben oder Leonore hervor.
Auf ähnliche Weise wie An die Musik ist auch The Art of Dietrich Fischer-Dieskau als Zusammenfassung von exemplarischen Interpretationen aufgebaut. Je eine DVD widmet sich dem Lied- und dem Opernsänger. Den Hörern bietet sich hier die Möglichkeit, nicht nur die Gestaltung der Stimme, sondern auch die durchdachte, auf die Musik und die dramatische Situation abgestimmte Mimik und Gestik des Sängers gerade auch in schwierigen Partien wie der des Mandryka in Strauss Arabella zu bewundern. Dabei hat die Opern-DVD naturgemäß größere Reize als diejenige mit Liedaufnahmen, da sich hier der Kamera ungleich größere und bessere Möglichkeiten boten. Ohnehin ist die Zahl der Fernsehaufnahmen des Liedsängers Fischer-Dieskau relativ klein, sodass das einzigartige Liedprojekt von 1974 mit einer repräsentativen Auswahl aus der Geschichte dieser Gattung zwischen Beethoven und Strauss mit Wolfgang Sawallisch als kongenialem Begleiter im Zentrum steht. Ein besonderes Erlebnis bietet sich aber abschließend noch mit einer Aufnahme von Mahlers Kindertotenliedern mit Lorin Maazel am Pult des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (1968, heute: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin).
Peter Jost