Hinrichsen, Hans-Joachim / Laurenz Lütteken (Hg.)

Meisterwerke neu gehört

Ein kleiner Kanon der Musik. 14 Werkporträts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2004
erschienen in: das Orchester 12/2004 , Seite 82

Es ist hier nicht der Raum gegeben, die Kanon-Debatte der vergangenen Jahrzehnte, die sich in der europäischen und der amerikanischen Musikwissenschaft von höchst unterschiedlichen Ansatzpunkten aus entwickelte und zu recht gegensätzlichen Ergebnissen führte, wieder aufzunehmen. Aber es ist sicher etwas provokant, einem schmalen Bändchen speziell diesen Titel zu verleihen.
Schon im Vorwort bemühen sich die Herausgeber Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken kenntnisreich, die Kanondebatte und ihre Problematik zusammenzufassen, um letztlich doch nur zu einer kaum überzeugenden Rechtfertigung für ihre Titelgebung und die Konzeption des Bands zu gelangen. Und auch der Hinweis der Herausgeber, ihre Auswahl sei „höchst selektiv“ kann sie und ihre Konzeption des Ganzen nicht vor Kritik bewahren. Diese  haben Hinrichsen und Lütteken in bester rhetorischer Tradition gleichsam mitgeliefert, indem sie im Vorwort schon selbst auf die Mängel und Leerstellen ihres Unterfangens verweisen: Auf Monteverdi, Händel, Schumann, Debussy, Strawinsky, Bartók und gar Mozart zu verzichten, wenn von einem Kanon der Musik, genauer gesagt der klassischen europäischen  Musik die Rede sein soll, dies ist auch bei allen rhetorischen Klimmzügen ein hoffnungsloses Unterfangen.
Dieser Band ist das Ergebnis einer Ringvorlesung im Sommersemester 2002 der Universität Zürich. Wobei die zumeist auf hohem Niveau argumentierenden Autoren des Unternehmens sicher nicht die Zielscheibe der Kritik sein sollten. Grundlegende Zweifel hingegen sollten an die Verantwortlichen dieses Werks  und ihrer  nebulösen Konzeption zu richten sein. Dabei spielt es nur eine periphere Rolle, dass der Auftakt mit dem von Klaus-Jürgen Sachs vorgestellten „Gregorianischen Choral“ auch bei allen Bemühungen kaum einem geschlossenen Werkcharakter zuzuordnen ist. An den unterschiedlichen Ansatzpunkten, differierender Methodik und ebensolcher Qualität der Darstellung der 14 Autoren liegt es ebenso wenig, dass das Gesamtergebnis dieses Bands eher unbefriedigend bleibt.
Man hat immer das Gefühl, dass hier die anerkennenswerten Resultate einer Vorlesungsreihe unter einem in die Irre führenden Titel und einem Ansatz, der hoch, aber viel zu kurz greift, publiziert worden sei. Die Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz, die Martin Staehelin vorstellt, die bachsche Matthäus-Passion (Friedhelm Krummacher), Glucks Iphigénie en Tauride (Klaus Hortschansky), Haydns Schöpfung (Laurenz Lütteken), Beethovens neunte Symphonie, vorgestellt von Peter Gülke, Schuberts Winterreise (Walther Dürr), der Elias von Mendelssohn Bartholdy (Wilhelm Seidel), die Klaviersonate op. 5 von Brahms (Ludwig Finscher), Wagners Meistersinger von Nürnberg, vorgestellt von Dieter Borchmeyer, Bruckners neunte Sinfonie (Hans-Joachim Hinrichsen), Dvó¡raks Sinfonie Aus der Neuen Welt (Wolfram Steinbeck), Boitos und Verdis Falstaff (Anselm Gerhard) und die Elektra von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, wie sie Ulrich Konrad zu Recht betitelt – dass diese Werke hier vorgestellt werden, dürfte kaum eine ernsthafte Kontroverse hervorrufen.
„Meisterwerke neu gehört – Inventur im Museum“, wie das Vorwort überschrieben ist, dies leistet der Band sicher nicht. Von einer Inventur kann keine Rede sein, auch wenn die Gregorianik oder Schütz hier auftauchen. Die Auswahl bestärkt mit Sicherheit nur einen schon lange vorgegebenen Kanon, wobei das Ausklammern des 20. Jahrhunderts mit Ausnahme der Elektra den Begriff des „Museums“ von seiner eher anfechtbarsten Seite noch unterstreicht. Dass der Band dennoch lesenswert ist, liegt an den hochkarätigen Autoren, die, methodisch sehr unterschiedlich vorgehend, „ihr“ Meisterwerk mit entsprechender Überzeugungskraft vorstellen. Ob die Eloquenz eines Peter Gülke oder Ulrich Konrads Anmerkungen zur Elektra: Solche Beiträge machen den Band lesenswert, wenn auch sein Generalthema eher verfehlt scheint.
Walter Schneckenburger

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