Muti, Riccardo
Mein Verdi
Über einen Komponisten mit einem derart großen Namen sollte schon alles gesagt und geschrieben worden sein, könnte man meinen. Doch wer dieses Büchlein von Riccardo Muti zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, dass einem bisher vor allem im Hinblick auf die Interpretation von Giuseppe Verdis Musik zahlreiche wesentliche Details entgangen waren. Schnell wird einem bewusst, woran das liegt: Sogar die berühmtesten unter den Verdi-Sängern, die mit ihren Einstudierungen Maßstäbe setzten, halten sich offenbar nicht exakt an Verdis Vortragsbezeichnungen.
Insbesondere mit den Tenören gilt es da wohl hart ins Gericht zu gehen. In ihrer Eitelkeit und im Bestreben, dem Publikum mit einem langen, geschmetterten hohen Schlusston imponieren zu wollen, transponieren sie so manche Arie einen halben bis ganzen Ton nach unten. Muti hat das mannigfach erlebt, er spricht aus der Praxis, sensibilisiert dafür, dass die spezielle Farbe einer Tonart bei solchen Manövern auf der Strecke bleibt und zudem auch die Dramaturgie darunter leidet. Schließlich führt Verdi mit dem untrüglichen Gespür eines genialen Musikers und Theaterpraktikers einen großen dramatischen Bogen, der mit dem hohen Ton mutwillig zerstört wird.
Mit seinen akribischen Studien von Verdis Originalhandschriften, Urtexten und Aufführungspraktiken erinnert Muti unweigerlich an wegweisende Köpfe aus der Originalklangbewegung. Texttreue ist sein höchstes Gebot. Folglich berücksichtigt der Maestro in La Traviata auch einige Cabaletten, die sonst kaum gespielt werden, im da Capo wiederholt er sie gar mit zusätzlichen Verzierungen. Und auch die von einigen Opernfreunden etwas abschätzig genannten Humtata-Begleitungen rückt der Autor überzeugend in ein anderes Licht, bauen sie doch mit ihrem rhythmischen Impuls eine starke Binnenspannung auf, über der sich die Melodien entfalten können. Solche erhellenden Analysen verbinden sich mit kurzweiligen Anekdoten, persönlichen Erinnerungen und Schlüsselerlebnissen.
Mutig bekennt sich der Autor auch zu durchaus streitbaren persönlichen Vorlieben, wenn er z.B. Verdi über Wagner stellt (die Menschheit braucht Verdi in Zukunft dringender als Wagner), Giorgio Strehler als idealen Regisseur würdigt (weder altmodisch noch modern, sondern einfach nur großartig) oder einräumt, dass er mit Luisa Miller als einziger unter Verdis Opern noch nicht so recht warm wurde (Einerseits zieht sie mich in den Bann, dann wieder ermüdet sie mich durch ihre Längen.).
Ein aufmerksameres Lektorat hätte man dem Büchlein gewünscht, beginnen doch allzu viele Sätze mit dem Wörtchen denn. Aber das ist auch schon die einzige Kritik. Faktisch lernt man viel dazu, und so ist Mein Verdi eine dicke Empfehlung für jeden Laien und Kenner.
Kirsten Liese