Smetana, Bedrich

Mein Vaterland

Urtext, hg. von František Bartoš, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2013
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 69

Zu den Nationaldenkmälern der tschechischen Musik gehört zweifelsohne Bedrich Smetanas Zyklus Má vlast (Mein Vaterland). Die sechs sinfonischen Dichtungen, entstanden zwischen 1874 und 1879, unternehmen einen Streifzug durch die Sagenwelt, die Geschichte und die Landschaft des Landes. Jenseits patriotischer Gefühle und folkloristischer Melodien gelingen dem Komponisten auf der Basis von Liszts inspirierenden Tondichtungen sehr eigenständige, weil dynamische Formlösungen. Diese Freiheit ist kühn und innovativ, befreit sich der Böhme Smetana mit seiner Kunst doch vom Korsett der allerheiligsten Sonatensatzform, dem deutsch-österreichischen Formmodell Nummer 1. Insofern steckt eine rebellische Ader direkt in der Musik, die – wenn auch nur bedingt politisch motiviert – das Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit des tschechischen Nationalkomponisten untermauert. Jenseits der populären Moldau erklingt der komplette Zyklus in deutschen Konzerthäusern vielleicht zu selten. Ganz im Gegensatz zu Tschechien, wo er seit über 60 Jahren alljährlich das Musikfestival „Prager Frühling“ eröffnet. Die Tschechische Philharmonie setzte sich mit den Werken daher am intensivsten auseinander und entwickelte eine eigene, traditionsreiche Interpretationsgeschichte.
Als Nachdruck der lobenswerten kritischen Smetana-Edition von 1966 (Prag, Bd. 14), herausgegeben vom Komponisten und Musikforscher František Bartoš, erschien nun eine Urtext-Studienausgabe bei Bärenreiter. Sie wurde mit einem Vorwort der tschechischen Musikwissenschaftlerin und Smetana-Expertin Marta Ottlová versehen. Sechs Faksimiles der jeweils ersten Partiturautograf-Seiten sind dem Notentext vorangestellt. Im Vorwort referiert Ottlová die Entstehungsgeschichte. Darin erwähnt sie auch kurz die detaillierten Programme zu diesen Sinfonischen Dichtungen, die Smetana auf Wunsch seines Verlegers niederschrieb. Bekanntlich versah der Komponist jedoch nur Die Moldau direkt im Autograf mit den in der Musik „geschilderten“ Szenen. Bei den anderen Werken darf der Hörer, Musiker oder Dirigent entscheiden, ob er die in vielen Programmheften abgedruckten detaillierten „Hörhilfen“ zum Verständnis der Musik braucht. In den Noten verweisen ja lediglich Titel wie Šárka oder Tábor auf das Thema der jeweiligen Tondichtung.
Da der Notentext auf einer über 45 Jahre alten Ausgabe beruht, geht es natürlich nicht um editorische Neuentdeckungen. Der kritische Bericht wurde allerdings nicht mit abgedruckt. Für Detailfragen – etwa wieso manche Tempobezeichnungen oder dynamische Anweisungen in eckige Klammern gerückt sind – muss man also die zugrunde liegende Bartoš-Edition in einer Bibliothek konsultieren. Dieser wertet neben dem Autograf auch die zu Smetanas Lebzeiten erschienenen Editionen aus. Die neue Ausgabe ist für den praktischen Gebrauch gedacht und bietet im Vergleich zu alternativen Studien-Einzelausgaben (etwa bei Eulenburg) den Zyklus in einer gerade noch handlichen Gesamtpartitur.
Matthias Corvin