Mahler, Gustav
“Mein lieber Trotzkopf, meine süße Mohnblume”
Briefe an Anna von Mildenburg, hg. von Franz Willnauer
Nachdem Anfang 2006 die Briefe Gustav Mahlers an seine Familie erschienen sind, liegt jetzt mit Mahlers Briefen an Anna von Mildenburg der vorerst letzte große Baustein zum Verständnis seiner Biografie vor. Mildenburg war vor Mahlers Ehefrau Alma Mahler, neben seiner Schwester Justine und neben seiner langjährigen Freundin Nathalie Bauer-Lechner, die wohl wichtigste Frau im Leben des Künstlers. Bei ihrem ersten Engagement überhaupt als (sogleich hochdramatische) Sopranistin am Hamburger Stadttheater begegnete die 22-Jährige 1895 dem zwölfeinhalb Jahre Älteren, der sie als Erster Kapellmeister künstlerisch insbesondere beim Studium der großen Partien in den Werken Richard Wagners förderte und aufs äußerste forderte.
In Mildenburg fand Mahler jedoch nicht nur eine seinem Genauigkeitsfanatismus ideal entsprechende Sängerdarstellerin, sondern auch bald eine Vertraute, Geliebte und lebenslange Künstlerfreundin. Die Beziehung mit leidenschaftlichen Aufs und Abs, wie wir sie sonst nur aus seiner Ehe mit Alma kennen, mündete recht schnell in eine für die Öffentlichkeit problematische Affäre. Obwohl die Hamburger Briefe je nach Anlass und Überbringer zwischen dem vertrauten Du und dem förmlichen Sie hin- und herwechseln und die Protagonisten allerlei Vorkehrungen treffen, stehen sie doch beide nach nicht einmal anderthalb Jahren vor der Pflicht, ihre Beziehung legitimieren zu müssen. Wenngleich es sogar eine heimliche Verlobung gegeben haben dürfte, entschied sich Mahler 1897 dafür, vor der privaten Verpflichtung zu fliehen und zunächst dem Ruf an die Wiener Hofoper zu folgen. Letzteren verdankte Mahler pikanterweise u.a. Mildenburgs Gesangslehrerin Rosa Papier, die gemeinsam mit Nathalie Bauer-Lechner jedoch verlangte, die Beziehung zu Mildenburg fortan lediglich auf rein Dienstliches zu beschränken.
Mahler stellte die Sängerin tatsächlich anschließend vor die Wahl, entweder mit ihm gemeinsam an die Hofoper zu wechseln oder aber die private Beziehung fortzusetzen eine erstaunliche Parallele zu dem späteren berühmten Brief an Alma Schindler (mit der Option, ihn entweder zu ehelichen oder eine Karriere als Komponistin zu verfolgen). Mildenburg ging nach Wien und feierte dort mit Mahler in seinen Reforminszenierungen ihre größten Triumphe.
Herausgeber Franz Willnauer gelingt es, in verbindenden Zwischentexten analytisch und einfühlsam zugleich ein plastisches Bild dieser privaten Zweierbeziehung sowie der gemeinsamen Opernarbeit zu zeichnen. Da die Briefe Mildenburgs an Mahler weitgehend verloren sind, bezieht Willnauer sogar die Korrespondenz zwischen Alma Mahler und Anna von Mildenburg ein, die nebenbei auch Licht auf Paul Daubners frühen Komplettierungsversuch aller fünf Sätze der 10. Symphonie Mahlers wirft und belegt, dass die beiden Frauen trotz aller Ressentiments gern gemeinsam musizierten.
Dass die Literaturzitate innerhalb der Kommentarteile sowie des Nachworts nicht im Einzelnen nachgewiesen werden, schmälert den Gebrauchswert dieses Buchs für die Wissenschaft nur geringfügig. Für Mahler- wie Operninteressenten geht mit dieser Edition vielmehr ein Traum in Erfüllung, nicht zuletzt dank der Beigaben einer Liste aller Hamburger und Wiener Auftritte Mahlers und Mildenburgs sowie wesentlicher Publikationen von und über Mildenburg, deren Regiebücher etwa ergänzend zu diesen Briefen zu lesen wären.
Jörg Rothkamm