Boito, Arrigo

Mefistofele

Rubrik: CDs
Verlag/Label: hr-musik hrmk 030-06
erschienen in: das Orchester 01/2007 , Seite 91

Arrigo Boito ist in die europäische Musikgeschichte vor allem als Dichter und Librettist eingegangen. Mit seinen Operntexten hat er die italienische Librettistik des 19. Jahrhunderts erneuert und damit die Komposition von Bühnenwerken nachhaltig beeinflusst. Beim deutschen Publikum weniger bekannt ist der Komponist Boito, obwohl seine dramaturgischen Neuerungen gerade durch seine musikalischen Werke Einfluss auf andere Musiker ausgeübt haben.
Auf diesem Hintergrund ist die Einspielung seines Hauptwerks Mefistofele in einer Liveaufnahme aus dem Jahr 2004 sehr zu begrüßen. Boitos Dichtkunst, seine metrisch freie Sprache, seine lebendig strukturierte Wort-Dramaturgie und seine Vermeidung fester Formen führen unmittelbar zu einer neuartigen musikalischen Konzeption im Vergleich zur Opernentwicklung in Italien von Rossini über Bellini und Donizetti bis zum mittleren Verdi.
Rezitative, Arien und geschlossene Binnenszenen im traditionellen Sinne kommen bei ihm kaum noch vor. Die Gesangspartien verlangen eine artikulierte Sprache, eine wache Musikalität abseits eingefahrener periodischer Schemata und die Fähigkeit, rasche Ausdruckswechsel durch unterschiedliche Stimmtimbres zu verdeutlichen. Die Orchesterbehandlung zeigt eine farbige, charakteristische und dabei oft überraschend sparsame Instrumentation, die dem Orchester einen wesentlichen musikdramatischen Anteil zuweist.
Diesen Aufgaben werden die Sänger und Instrumentalisten (häufig solistisch hervortretend) unter dem eindringlichen Dirigat von Paolo Carignani in hohem Maße gerecht. Die Titelpartie erfährt durch Mark S. Doss eine facettenreiche Interpretation. Alberto Cupido bewährt sich als wandlungsfähiger Faust, auch in den italienisch tenoralen Steigerungen. Annalisa Raspagliosi als Margherita beherrscht die sängerische Skala von innig lyrischen bis zu hochdramatischen Momenten, vor allem in dem für ihre Rolle zentralen dritten Akt. Der Chor der Frankfurter Oper steuert mit seinen vielen inhaltlich tragenden Passagen einen wichtigen Teil zum Gelingen der Aufnahme bei.
Boito hat Goethes Faust zu acht Bildern zusammengefasst und Elemente aus dem zweiten Teil des Dramas – Helena-Szenen, Faust im Alter und sein Ende – einbezogen. Beginnend mit dem Prolog im Himmel sind es meist oratorische Tableaus, in denen die Innenspannung und die Personencharakterisierung gegenüber einer vordergründigen Dramatik überwiegen. Die gewählten Szenenausschnitte, auch die bewegenden Gretchen-Passagen, setzen die Kenntnis der Handlungsfäden des Goethe’schen Werks weitgehend voraus und fokussieren die Aufmerksamkeit auf eine jeweils zentrale Konstellation. Kontrastierend hierzu durchzieht die Gestalt des Mephistopheles, intrigierend, beschwörend oder distanziert betrachtend, fast das gesamte Geschehen. („Das Nichts will ich und, was erschaffen, das will ich ganz und gar vernichten.“) Am Schluss versinkt er im Boden, überwunden – anders als bei Goethe – durch Fausts Überzeugung von der biblischen Wahrheit und dessen inbrünstiges Gebet, das ihm die himmlischen Heerscharen, die seine Seele emporheben, zu Hilfe schickt.
Peter Schnaus