Charpentier, Marc-Antoine / Claudio Monteverdi
Medée (excerpts) / Arie e Madrigali
Vor hundert Jahren waren Frauen, die als Profimusikerinnen ihren Mann standen, ausgesprochen rar, denn abgesehen von der Opernbühne kamen nur wenige Berufszweige in Betracht: Man/Frau wurde Klavierlehrerin oder selten genug Orchestermusikerin, wobei auch hier nur bestimmte Instrumente als schicklich galten. Vom Komponieren zu leben, war für Frauen schlicht undenkbar, Karriere zu machen als Pädagogin oder gar Dirigentin eine ebenso unrealistische Option.
An diesem Punkt beginnt die außergewöhnliche Erfolgsgeschichte von Nadia Boulanger, die sich nicht nur allen gängigen Gender-Klischees widersetzte, sondern in jenen Männerdomänen zu einer Instanz und Kapazität wurde, die ihresgleichen nicht hatte. 1887 als Tochter eines Pariser Violinprofessors und Komponisten geboren, war sie bereits einundzwanzigjährig beim renommierten Kompositionswettbewerb um den Prix de Rome erfolgreich, gab jedoch bald das eigene Komponieren auf, um sich ganz dem Unterrichten zu widmen. Viele Jahrzehnte wirkte sie in Paris, während des Zweiten Weltkriegs auch in den USA. Zu ihren Schülern zählen Aaron Copland, Jean Françaix, Igor Markevich und Astor Piazzolla.
Weniger bekannt ist, dass Nadia Boulanger auch als Dirigentin Pionierarbeit geleistet hat, zumal mit Blick auf das Repertoire. Ihr Interesse galt insbesondere der Musik Claudio Monteverdis und der französischen Barockmeister. Zu deren Wiederbelebung existierten ihre Partituren doch bis weit ins 20. Jahrhundert beinahe ausschließlich als Staubfänger in Musikarchiven hat sie unschätzbare Beiträge geleistet.
Zwei Dokumente dieser Tätigkeit sind hier zu hören: Ausschnitte aus einer Rundfunkproduktion der Oper Médée von Marc-Antoine Charpentier aus dem Jahr 1953 sowie 1937 ebenfalls im Studio produziert zehn Monteverdi-Madrigale. Im Booklet-Text findet sich der wichtige Hinweis, dass Boulangers Gestaltungsimpuls nicht primär philologischer Natur war. Ihr lag daran, zum expressiven Kern einer Musik vorzudringen, die uns heute, geprägt durch Hörerfahrungen der historischen Aufführungspraxis, viel geläufiger ist, als sie es Musikern vor fünfzig oder gar siebzig Jahren sein konnte.
In der Tat tritt ein signifikanter Unterschied zu Tage zwischen dem Interpretationsansatz der Médée-Aufnahme und jenem der Madrigale: Erscheint Charpentiers Musik, gesungen von großen Sängern der Zeit, darunter der berühmten Nadine Sautereau, durchaus im Licht barocker Affekte für die freilich damals noch keine adäquate Stilistik (wieder-) gefunden worden war , so mutet die Monteverdi-Aufnahme schon recht exotisch an: Der durchweg sanfte, verzärtelte sängerische Gestus kündet auf anrührende Weise von der Unsicherheit, den die Ausführenden im Umgang mit der neu entdeckten Musik damals empfunden haben dürften. Gleichwohl: Als Dokument für das Wirken einer großen Musikerin wie auch für die Anfänge dessen, was als Alte Musik-Bewegung unsere Musikrezeption fundamental verändert hat, ist die CD unbedingt hörenswert.
Gerhard Anders