Reimann, Aribert

Medea

Oper in vier Bildern, Textfassung vom Komponisten nach Franz Grillparzer, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2011
erschienen in: das Orchester 10/2011 , Seite 65

Mit seiner Oper Medea, dem erklärten „weiblichen“ Gegenstück zum Lear, erlangte Aribert Reimann erneut Aufsehen und Anerkennung. Am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper mit dem Dirigenten Michael Boder und dem Regisseur Marco Arturo Marelli herausgebracht, wurde sie bald darauf zur „Uraufführung des Jahres“ gekürt. Für die DVD-Aufzeichnung erhielt das Label Arthaus Musik 2011 den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“, und die deutsche Erstaufführung an der Oper Frankfurt am Main brachte Oehms auf CD heraus. Nunmehr liegt auch die Studienpartitur vor, die den tieferen Blick in die Textur, in die Klang- und Werkstatt-Geheimnisse des Komponisten gestattet.
Dabei lässt sich nachvollziehen, wie sehr Reimann von Franz Grillparzers Medea-Version affiziert war – von einer Sprache, „die weit in unsere Zeit hineinreicht, die bei mir Musik evoziert“; wie stark die dunkle Vulkan-Landschaft Lanzarotes seine Klangvorstellungen beeinflusst hat; und wie sich die Traumata seiner Kinderzeit, die Bombennächte in Berlin und Potsdam, im Inferno des 3. Bildes musikalisch niederschlugen.
Sechs Personen besetzt Reimann in diesem Werk über den Fluch des „ungerechten Gutes“, über Fremdheit und Heimatsuche, über Liebe und Verzweiflung, und führt die Monologe und Dialoge hochexpressiv und hochvirtuos bis an die Grenzen des Singbaren. Ihre Koloraturen und Melismen dienen der steten Ausdrucksintensivierung. Und die vokale Brillanz hält „Arien-Schmelz“ fern, lässt aber mittels Timbre und Duktus der Stimmen die Charakterisierung aller Figuren unbedingt zu: Individualität, zu der „obligate“ Orchesterinstrumente und -gruppen überdies beitragen, mit magischen Tamtam-Schlägen am Beginn, über gleißende Violinen, grelle Holzbläser, brodelndes Blech bis zum Verlöschen in Piccolo und Kontrabass. Medeas Sopran hat ein exorbitantes dramatisches Crescendo zu bewältigen. In Goras Alt leuchten warme, sanfte Untertöne auf. Kreusas Mezzo reizt sinnliche und kapriziöse Facetten aus. Kreon (Tenor) artikuliert sich schroff. Jasons (Bariton) Kälte schlägt am Ende in verzweifeltes Werben um. Und der irreale Countertenor (Herold) webt über Zeit und Raum hinweg am Faden der Geschichte.
Mit seinem exklusiven Instrumentarium (u.a. Bassflöte, Heckelfon, Kontrabassklarinette, Basstrompete, Bronze-Platten) verfügt das groß besetzte Orchester über eine Farbpalette, die den düsteren Schattenwelten und verklärten Traum-Sequenzen, den sensiblen Seelenregungen und flammenden Leidenschaften Ausdruck und Atmosphäre gibt. Quelle des musikalischen Materials ist der große Monolog der Gora. Einem aus 15 Tönen bestehenden, über sechs Oktaven aufgefächerten und mehrmals wiederkehrenden Streicher-Akkord entspringt immer wieder Neues: ein fortwährendes Fließen der Linien und Klänge, oft in kunstvollen Intervall-Spiegelungen und meist mit schwebenden, den Taktschwerpunkten ausweichenden Rhythmen – auch das ein „Abbild“ dessen, was Reimann in seiner Medea erspüren will: „Wer bist du, doppeldeutiges Geschöpf?“
Eberhard Kneipel