Frei, Marco

Mausklick statt Aufführung?

Neue Medien erobern die Live-Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 09/2008 , Seite 30
Mit den neuen Medien eröffnen sich auch neue Möglichkeiten im Musikgeschäft. Der neueste Renner sind Live-Streams von Konzerten und Opernaufführungen im Internet. Im Vergleich zu traditionellen Musikkonserven bieten sie eine entscheidende Qualität – den Live-Moment. Wie wichtig der ist, beweist der Erfolg der Live-Stream-Angebote.

 „Auf dem heutigen Markt finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die ihrer Eigenschaft beraubt sind“, wetterte der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Zizek Ende Juni in seinem Eröffnungsvortrag der diesjährigen Münchner Opernfestspiele. „Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol. Und die Liste lässt sich verlängern: Wie wäre es mit virtuellem Sex als Sex ohne Sex?“ Der neueste Trend dürfte dem einflussreichen Gegenwartsdenker ein regelrechter Dorn im Auge sein: ein Besuch im Konzertsaal, ohne dass man im Konzertsaal ist.

Digitale Musikwelt

So stellt sich Rob Overman die Zukunft vor. Dafür hat der ehema lige Geschäftsführer des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters das Internet-Portal MonteVerdi.tv – Worlds of Classical Music ins Leben gerufen. Im Frühjahr 2008 ging es an den Start, verantwortlich zeich – net das Multimedia-Unternehmen CommuniServe. Das wie derum hat Overman im Februar 2007 in Amsterdam gemeinsam mit hol – ländischen Musikwissenschaftlern und Veranstaltern initiiert. „Mit unseren Portalen können wir einer Vielzahl von Musikliebhabern Zugang zu allem verschaffen, was gerade passiert und für sie von besonderem Interesse ist“, erläutert Overman. „So ermöglicht CommuniServe beispielsweise, Konzerte von hoher Qualität direkt via Internet zu verfolgen.“ Damit ist eigentlich alles gesagt, denn mit MonteVerdi.tv hat CommuniServe weltweit das erste Online- Musikportal geschaffen. Entstanden ist zugleich die erste Musikplattform für Internet, Digital-Fernsehen und Mobildienste. Der besondere Clou: Mit dem Portal lässt sich der Computer gewissermaßen als Konzertsaal nutzen, Konzerte und Opernaufführun gen auf der ganzen Welt lassen sich live mitverfolgen. „Live Video Streaming“ heißt das eine Zauberwort, das andere lautet „Video on demand“, also auf Nachfrage. Daneben stehen den Nutzern Audio- Downloads zur Verfügung. Zudem bietet MonteVerdi.tv CDs, DVDs und Musikpublikationen zum Kauf an. Darüber hinaus kann man sich in ein Online-Radio einklicken, durch das man wiederum Hunderte von Musiksendern weltweit empfangen kann. Schließlich können sich Musikliebhaber untereinander austauschen, also chatten. Abgerundet wird das Angebot von einer großen Datenbank zu Opernhäusern, Konzertsälen, Festivals, Künstlern, Komponisten und Ensembles. Doch was bringen Live-Streams? „Sehr viel“, meint natürlich Overman. „Das Interesse an Klassik ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Unsere Live-Streamings bieten nun jedem die Möglichkeit, Top-Ereignisse zu erleben. Wir erreichen auch diejenigen, die noch nie einen Konzertsaal betreten haben!“

Größere Reichweite

Jos van Veldhoven pflichtet Overman bei: „Unsere Konzerte werden jetzt von einem breiteren Publikum rezipiert. Deswegen unterstützen wir diese Initiative.“ Tatsächlich startete MonteVerdi.tv am 14. März 2008 mit einem Live-Streaming eines Konzerts der tradi – tionsreichen Niederländischen Bachvereinigung, die van Veldhoven leitet. Aufgeführt wurde die Matthäus-Passion von Johann Sebas – tian Bach, für das Konzert hat MonteVerdi.tv mit der Avro Tele – vision Company kooperiert. 6,50 Euro kostete die Nutzung der Internet-Live-Übertragung, dafür erhielt man als User für 48 Stunden Zugang zum gesamten Portal und konnte sich die Aufführung beliebig oft nochmals an – sehen. „Erstmals konnten Bach-Liebhaber in der ganzen Welt unser Konzert live mitverfolgen“, freut sich van Veldhoven. „Das ist sicherlich ein Argument“, sagt Anne-Kathrin Peitz, Leiterin der Presse- und Marketingabteilung der Staatsoper Stuttgart. Seit Ja – nuar 2008 werden Opernaufführungen mit drei- bis fünfminütigen Clips zu den jeweiligen Produktionen auf der Homepage der Staatsoper Stuttgart beworben. Ansonsten aber stellen sich Peitz eher viele Fragen rund um Live- Streams, darunter auch rechtliche. Nicht zuletzt wegen der Mischung aus Live-Streams und späterer Wiederholung einer Aufführung sieht Peitz eine mögliche rechtliche Grauzone. So könnten zusätzliche Verlags- sowie Leistungsschutzrechte für Künst ler hinzukommen: „Ich sehe einen immens hohen Kostenfaktor“, so Peitz. „Wer trägt diese Kosten? Das jeweilige Internet-Portal sicher nicht, sonst würde es sich ja für sie nicht rentieren.“

Rechtliche Grauzone?

Die Frage ist berechtigt, „deswegen kostet unser Live-Stream auch 49 Euro“. Damit meint Alexander Busche von der BF Medien GmbH, die die Bayreuther Festspiele betreut, den Internet-Live- Stream von Katharina Wagners Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg am 27. Juli. Mit dieser Produktion wurde in diesem Jahr erstmals bei den Bayreuther Festspielen ein Live-Stream angeboten. „Die Künstler erhalten hierfür zusätzlich Geld“, so Busche. Zudem habe man die bestmögliche Technik gewählt. Dafür wurde mit dem Bayerischen Rundfunk zusammengearbeitet, eingesetzt wurden u. a. ferngesteuerte Remote-Kameras. Mit der Einführung der Live-Streams ist Busche äußerst zufrieden: „Wir konnten nicht nur Anmeldungen aus dem deutschen Sprachraum und Europa, sondern auch aus den USA, Kanada, Japan, Korea, Brasilien, Mexiko, Israel oder Ägypten verbuchen. Damit erreichen wir Wagner-Fans aus aller Welt.“ Und nicht nur das: „Selbst Bayreuther haben sich angemeldet, obwohl sie die Meistersinger bei der Bayreuther ‚Siemens Festspielnacht‘ am 27. Juli auf einer Videowand kostenlos mitverfolgen konnten.“ Parallelen zu MonteVerdi.tv fallen auf. So beinhalteten die 49 Euro Nutzungsgebühr zudem spätere Abrufe der Meistersinger-Aufführung vom 27. Juli „on demand“ bis zum 2. August. Dennoch hat Busche von MonteVerdi.tv bislang nichts gehört, Vorbild war das Internetportal aus Holland nicht. „Es gibt aber einen generellen Trend auf diesem Gebiet“, so Busche. Für Peitz von der Staatsoper Stuttgart bleibt jedoch noch ein anderes Problem: „Live-Streams können einen Vorstellungsbesuch nicht ersetzen. Die Emotionen, die Atmosphäre – all das gehört dazu.“ Peitz ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Auf die Frage, ob Live-Streams im Internet das Erlebnis im Saal ersetzen können, antwortet Rainer Schmitz: „Nein. Das feierliche Ambiente im Saal, das schicke Anziehen – wie beim Fußball ist das hautnahe Live-Erlebnis unvergleichbar“, so der Hornist und Akademievorstand des Bayerischen Staatsorchesters. Deswegen spricht Schmitz auch nicht von Konkurrenz, sondern allenfalls von einer Ergänzung. Anders beantwortet Schmitz die Frage, ob neue Medien und verbesserte Aufnahmetechniken die Hörgewohnheiten verändern.

Konkurrenz durch Live-Streams?

„Natürlich ist das eine große Gefahr“, meint Schmitz, „aber das ist schon seit der Einführung der CD so. Der Klang auf einer CD ist nicht real, häufig ist der Solist oder Sänger im Vordergrund, so etwas ist in einer Aufführung kaum möglich.“ Und bis Live-Streams im Internet eine vergleichbare Klangqualität wie CDs erreichen, werden wohl noch sehr viele Jahre vergehen. Das meint zumindest Felix Gargerle, Geschäftsführer des CD-Labels Farao und selbst Musiker: „In der Bild- und Tonqualität erreichen Live-Streams nicht einmal DVD-Qualität.“ Und Gargerle pflichtet Schmitz und Peitz bei: „Optisch, akus – tisch und spirituell sind Live-Streams im Internet nicht vergleichbar mit einem Aufführungsbesuch.“ Letztlich meint dies auch Dieter Oehms vom gleichnamigen CD-Label, um die Brücke zum CDHandel zu schlagen. „Eine CD können Sie in Ruhe bei einem Glas Wein genießen, und sie steht bei Ihnen im Regal. Der Sammel- Aspekt ist in der Klassik wichtig, in der Popmusik ist das anders.“ Wie auch immer, bei CommuniServe hat man ambitionierte Ziele: „Wir möchten der international führende Provider auf dem Musikmarkt werden und bleiben“, heißt es in einer Presseerklärung. Mit „Jazzon.tv“ soll das Angebot in Kürze auf Jazz erweitert werden.