Bach, Johann Sebastian

Matthäus-Passion BWV 244(b)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Rondeau Production ROP 4020/21/22
erschienen in: das Orchester 01/2008 , Seite 60

Bachs Matthäuspassion ist uns geläufig in der Gestalt, die uns die autografe Reinschriftpartitur von 1736 überliefert. Schon seit Langem bekannt ist eine Abschrift aus den 1750er Jahren. Dem Kopisten hatte offenbar die verschollene Originalpartitur von 1729 vorgelegen. Diese „Frühfassung“ enthält noch nicht den großen Choralchorsatz „O Mensch, bewein dein Sünde groߓ am Schluss des ersten Teils, dafür nur einen schlichten vierstimmigen Choral. Die Altarie „Ach, nun ist mein Jesus hin“ war ursprünglich dem Bass zugewiesen, die Viola da gamba-Soli waren mit einer Laute besetzt. Ein fehlender Choral wurde vielleicht nur übersehen.
Dem kundigen Hörer der vorliegenden Ersteinspielung dieser „Frühfassung“ wird eine Fülle von kleineren Abweichungen auffallen, zum Beispiel die irritierende Trugschlusswendung in einem Evangelistenrezitativ („und schlug des Hohenpriesters Knecht“), der Schluss der Arie „Sehet, Jesus hat die Hand“, der hier noch nicht ein Zitat aus dem oben erwähnten Choralchorsatz enthält, oder die veränderte Bassführung im Schlusschor. Für eine Bewertung dieser Fassung ist jedoch ein Blick in die inzwischen verfügbare Partitur unerlässlich. Hier fehlen nicht nur die Bassbezifferung, sondern fast alle Phrasierungsbögen, Verzierungen und Vorhalte. Unvorstellbar, dass dies jemals Bachs Absichten entsprochen haben könnte! So ist es durchaus sinnvoll, dass die Phrasierungen für die Aufnahme teils aus Bachs „autorisierter“ Fassung, teils nach eigenem Ermessen ergänzt wurden.
Die fehlenden Verzierungen und Vorhalte stellen die Ausführenden vor ein Dilemma: Haben wir es mit den Konturen einer Frühfassung zu tun oder lediglich mit einer unzureichenden Quelle? Thomaskantor Georg Christoph Biller entscheidet sich hier meist für die kargen Lesarten der Frühfassung. Ein interessantes Detail findet sich in den beiden Arien mit Solovioline: Die Soli wurden aus dem jeweils anderen Chorus besetzt. Dies lässt darauf schließen, dass Bach mit einer sehr kleinen Streicherbesetzung und einem räumlichen Gegenüber von Solo und Ripieno rechnete. Beides wurde jedoch nicht realisiert; es wurden vier Violinen in jeder Gruppe eingesetzt.
Der Tenor Martin Petzold hat neben der Evangelistenpartie auch die Arien übernommen. Sein anhaltendes Espressivo wirkt oft eindimensional, an dramatischen Stellen leicht forciert. Matthias Weichert bleibt in seiner Rolle als Jesus allzu distanziert. Solide sängerische Leistungen bieten Ute Selbig (Sopran) und Britta Schwarz (Alt). Eine wunderbar anrührende Interpretation seiner Arien gelingt dem Bassisten Thomas Laske. Die meisten Nebenrollen wurden aus dem Chor besetzt. Als pädagogische Motivation mag diese Entscheidung verständlich sein, angesichts einer kaum überschaubaren Vielzahl hochkarätiger Einspielungen ist sie problematisch. Der Thomanerchor bewältigt seine Aufgaben sehr ordentlich, auch wenn er das Niveau früherer Zeiten noch nicht wieder erreicht hat. Das Gewandhausorchester erweist sich als homogener und kompetenter Klangkörper. Wenn stellenweise musikalische Spannungsbögen merkwürdig ins Leere gehen, wenn der räumliche Abstand nicht einheitlich ist, mag der Grund im Zusammenschnitt mehrerer Aufführungen und Studiokorrekturen liegen.
Jürgen Hinz