Hennig, Carsten

Massenbewegung

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6565 2
erschienen in: das Orchester 10/2008 , Seite 63

Lauter leere Stuhlreihen auf der Rückseite des Booklets. Einladung? Abschreckung? Oder ein Hinweis auf Carsten Hennigs Musik? Sie ist immer in Bewegung. Ruhepunkte kennt sie nur als spannungsvolle Pausen, als Leerstellen, die rhythmischer Dynamik den Ausgleich verschaffen oder neue Klangereignisse evozieren – wie im Orchesterstück synonym (2000). Auf Gefühle und Stimmungen kapriziert sie sich nicht, selbst wenn fantasievolle, anspielungsreiche Titel das vermuten ließen. Die aber deuten weniger auf ein Programm, eine außermusikalische Idee oder einen emotionalen Hintergrund hin; sie verweisen vielmehr auf Problemstellungen und Macharten des Komponierens selbst. Auch poetische Anmutungen werden von technischen Hinweisen konterkariert. Was Hennig will, ist, den Hörer herauszufordern und das Wahrnehmungsvermögen zu konditionieren.
Dafür konnte der 1967 in Dresden geborene Komponist ein großes kreatives Potenzial entwickeln: Sein Musikstudium hat er in Weimar begonnen und an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg fortgeführt; in Rostock und am Mozarteum Salzburg wurde er Schüler von Adriana Hölszky. Die Jahre seit 2000 brachten ihn an viele Orte und zu Interpreten, die für die neue Musik von größtem Belang sind. Und bedeutende Auftraggeber und Musikpreise tragen bis heute zum internationalen Renommee Hennigs bei. Bereits das Werkverzeichnis verrät Vielfalt, Eigenart und Ambitionen. Auch die Besetzungen signalisieren seine Aversion gegenüber jeglicher Routine.
Jedes der etwa 30 Stücke stellt sich anderen Aufgaben, verfolgt neue Ziele. Am Anfang Tabula rasa, dann die Konfrontation von Avantgarde und Klassik-Relikten als Mittel, um Rhythmen und Farben, Bewegungen und Formen neu zu entwickeln. Am Ende eine Art „Begleitmusik zu Fantasie-Szenen“, die sich dem stimulierenden Miteinander von narrativen Zügen, bildhaften Momenten und klangschöpferischen Ideen verdankt.
So wirkt das Stück Ausflug nach Sing-Sing in drei Gruppen (mit Rotationen) für 20 Instrumente als Bewegungsstudie, um Material und Gestik zu erforschen und klangliche Identitäten auszutauschen. Für die 2004 entstandenen Aperioden mit 7 Faltungen ist das Programm die Form: Schwankungen im Tonspektrum bis hin zu den Extremsituationen des Faltens verleihen dem Stück die Kontur. Kadenzes – 13 Fälle (2001) wählt das Fallen zum Thema: als Gleiten von Tönen, Taumel von Bewegungen und schicksalhaftem Absturz (mit der Frauenstimme als Chiffre) ins Nichts eines Diminuendos. Und im großen Orchesterwerk Massen (2005) treffen zwei widerstrebende Kräfte aufeinander – „die höhere Ordnung des Schwarms und das undurchsichtige Chaos des Sandsturms“ –, um gemeinsam den Orchesterklang mit Tonpartikeln und Bildpunkten als flimmernden Raum und zeitliches Kontinuum zu entfalten.
Allen diesen Werke und ihren Interpreten ist es zu danken, dass die „Edition Zeitgenössische Musik“ des Deutschen Musikrats um ein eigenwilliges, beachtenswertes Komponistenporträt reicher ist.
Eberhard Kneipel