Bernstein, Leonard
Mass
Jedes Werk, das ich schreibe, für welches Medium auch immer, ist in Wirklichkeit in irgendeiner Weise Theatermusik. Zu dieser Aussage des Komponisten Leonard Bernstein fügt sich ganz logisch der Untertitel seines Großwerks “Mass A Theatre Piece for Singers, Players and Dancers”, das er im Auftrag der Präsidentenwitwe Jacqueline Onassis schuf zur Eröffnung des New Yorker John F. Kennedy Centers im September 1971.
“Mass” ist auf dem Feld von Bernsteins geistlicher Musik der direkte Nachfolger der “Chichester Psalms” von 1965, doch um vieles umfangreicher und komplexer. Der Komponist verwendet in dem fast 110-minütigen Werk auf der Basis der römisch-katholischen Messe und weiterer Texte von ihm selbst sowie von Stephen Schwartz Bezüge vom Jazz bis zum Kirchenlied, von der Marschmusik bis zum Popsong, von der Wiener Klassik bis zum Broadway. Und doch ist das, was mehrere Chöre, Vokal- und Instrumentalsolisten und ein sinfonisches Orchester bieten, immer typische Bernstein-Musik, in der Musical-Charakter und klassizistische Seriösität die Balance halten.
Die vorliegende Aufnahme ist unter der Leitung des Dirigenten Kristjan Järvi im Februar 2006 im Festspielhaus St. Pölten entstanden. Mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich musizieren die Instrumentalisten des Absolute Ensemble, es singt der Street Chorus Company of Music, der Chorus sine nomine und der Tölzer Knabenchor, als Hauptsolist wirkt der Bariton Randall Scarlata.
Vom Stimmengewirr des Kyrie-Vorspiels geht es zum ruhevollen Hymnus und zum Psalm “A Simple Song”, der sich ganz nah bei Bernsteins Oper “Candide” und dem Musical “West Side Story” bewegt. Hier lernen wir gleich den Hauptsolisten kennen: Randall Scarlata singt mit geschmeidiger Stimme, präzise phrasierend und artikulierend. Er ist sowohl zu viriler Kraft als auch zu sinnlicher Lyrik fähig. Das folgende swingende Halleluja bietet eine der echten Jazz-Anleihen des Komponisten, später kommen noch drei blues singers und drei rock singers zum Zuge. Ein Vergnügen ist es, den von Gerhard Schmidt-Gaden einstudierten Tölzer Knabenchor zu hören mit glockenreinen Stimmen und dem Knabensopran Georg Drexel als Solisten.
Das gut disponierte niederösterreichische Tonkünstler-Orchester unter Kristjan Järvi, der den riesigen Apparat mit allen Chören und Solisten gut zusammenhält, bekommt in diesem Theatre Piece in zwei der drei zum Werk gehörenden Meditationen gleichsam die Bühne für sich allein. Die zweite Meditation mit Violoncello war übrigens ein von Mstislaw Rostropowitsch sehr geschätztes Stück, und Bernstein hat für ihn eigens “Three Meditations” arrangiert. Die letzte der drei Meditationen in “Mass” führt Orchester, Chor und Baritonsolo in “De profundis” zu einer Art vorweggenommenem Finale zusammen. Die vorliegende Produktion ist sowohl interpretatorisch als auch dokumentarisch wertvoll; denn komplette Aufnahmen von Mass sind selten. Außer einer vom Komponisten selbst geleiteten Einspielung und einer weiteren im Dirigat von Kent Nagano ist mir keine andere bekannt.
Günter Buhles