Johann Sebastian Bach

Mass in b minor

Christina Landshamer, Elisabeth Kulman, Wolfram Lattke, Luca Pisaroni, Dresdner Kammerchor, Gewandhausorchester Leipzig, Ltg. Herbert Blomstedt

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Accentus Music
erschienen in: das Orchester 04/2018 , Seite 71

In seinen letzten Lebensjahren vervollständigte Bach seine 1733 dem Dresdner Hof gewidmete Kyrie-Glo­ria-Messe zur Missa tota. Im lutherischen Gottesdienst hätten nur einzelne Teile einen Platz gehabt – so das bereits 1724 komponierte Sanctus wie auch eine Einrichtung von Teilen des Gloria. Die auskomponierten Gloria- und Credo-Intonationen sowie gregorianische Canti firmi, die in lutherischen Varianten erklingen, widersprechen der katholischen Liturgie, einzelne Textvarianten entsprechen jedoch der katholischen Tradition.
Bis heute wird darüber spekuliert, ob Bach mit einer vollständigen Aufführung in Dresden, Berlin oder Wien rechnete oder ob er sein künstlerisches Vermächtnis dokumentieren wollte. Wie schon 1733 griff er für die ergänzten Teile auf bereits vorhandene Chorsätze und Arien zurück, die er zum Teil erheblich neu gestaltete. Lediglich „Et incarnatus“ und „Confiteor“, vielleicht noch „Quoniam“ gelten zweifelsfrei als Neukompositionen für die Messe.
Obwohl das Werk in Abschriften Verbreitung fand – Haydn besaß ein Exemplar – und ab 1836 eine gedruckte Ausgabe vorlag, fanden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nur vereinzelte Teilaufführungen statt. Ein Grund waren die enormen Schwierigkeiten für die Sänger, und zudem konstatierte 1834 ein Kritiker beim Publikum „mehr Bewunderung als innige Theilnahme“. Nicht zuletzt die zunehmende Verfügbarkeit geeigneter Blasinstrumente brachte dem Werk im Laufe des 20. Jahrhunderts seinen zentralen Platz im Repertoire ein.
Die vorliegende DVD dokumentiert die Aufführung in der Thomaskirche im Juni 2017 beim Leipziger Bachfest. Hier wurde offensichtlich die Neue Bach-Ausgabe benutzt, die der autografen Partitur den Vorrang einräumt. In den überlieferten Dresd­­ner Stimmen von 1733 finden sich etliche abweichende Lesarten, die Legatobögen, melodische Varianten, die Textverteilung und – besonders auffällig – den mutmaßlich von Bach intendierten lombardischen Rhythmus im Domine Deus betreffen; an dieser Stelle erklingen die „geraden“ Sechzehntel.
Chor und Orchester sind so stark besetzt, wie es die räumlichen Verhältnisse auf der Empore der Thomaskirche zulassen. Bei meist flüssigen Tempi, denen auch der hervorragende Dresdner Kammerchor mühelos folgt, lässt Herbert Blomstedt stets genügend Raum für klare Phrasierung und Artikulation sowie dezente dynamische Schattierungen. Die Musiker des Gewandhausorchesters erweisen erneut ihre stilistische Kompetenz. Herausragend sind die Soli von Violine, Oboe d’amore, Flöte und Horn.
Christina Landshamer (Sopran II) und Elisabeth Kulman (Alt) überzeugen mit makelloser Geradlinigkeit in ihren Arien und Duetten. Wolfram Lattke wirkt in der Höhe angestrengt und nicht immer intonationssicher. Die beiden Bassarien stellen mit ihrem großen Tonumfang und langen Phrasen erhebliche Herausforderungen an den Bassisten, die Luca Pisaroni angemessen bewältigt. Eine insgesamt gelungene Aufführung, die Extreme und Eigenwilligkeiten vermeidet.
Jürgen Hinz