Schweitzer, Benjamin

Marraskuu (November)

für Violine, Violoncello und Klavier, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 89

In den frühen Werken Benjamin Schweitzers bilden Texte Robert Walsers einen Fixpunkt, um den die Gedanken des Komponisten unablässig kreisen. So wählte Schweitzer Walsers lyrische Prosa als Grundlage für seine Kammeroper Jakob von Gunten. Gleichzeitig stellt Schweitzer viele seiner Instrumentalwerke in ein enges Verhältnis zu Texten, Textausschnitten oder Gedankensplittern aus Walsers Werken. Der schlichte Tonfall Walsers, hinter dem sich eine scharfe Beobachtungsgabe und emotionale Tiefgründigkeit des Dichters verbergen, bietet dabei eine reiche Assoziationsquelle und ein weites Feld für die musikalische Ausdeutung und Interpretation.
Seinem 1998 komponierten und jetzt in der grundlegend überarbeiteten Fassung aus dem Jahr 2004 veröffentlichten Klaviertrio Marraskuu legt Schweitzer als Motto die Zeilen Walsers „Er riß die Blätter von dem Baum / Und ging, heißt es vom rauhen Herbst“ zugrunde. Mit dem Titel des Werks, der aus dem Finnischen stammt und sowohl „November“ als auch „tot, öde, abgestorben“ bedeutet, führt Schweitzer eine zusätzliche semantische Ebene ein. Somit eröffnen Titel und Motto den Interpreten weite Assoziationsräume.
In der etwa 23-minütigen Komposition für Klavier, Violine und Violoncello rückt Schweitzer bewusst von der Gattungstradition „Klaviertrio“ ab. Die Instrumente werden streckenweise unabhängig voneinander geführt; dabei sucht Schweitzer mit sehr differenzierten kompositorischen Mitteln unverbrauchte Klänge und Klangfolgen zu gestalten. Er reduziert den Tonsatz immer wieder auf Ein- oder Zweistimmigkeit und lässt einzelne Gesten für sich sprechen. In der fließenden, ständig von Pausen durchbrochenen Musik suchen die Instrumente Nähe und Ferne zueinander. Charakteristisch für diese Musik ist Schweitzers Spielanweisung in Takt 247: „Die Pausen wie ,Löcher‘ in einem verwehten Gesang“. Die in der überarbeiteten Fassung nachträglich eingefügten Taktstriche dienen den Spielern zwar zur Orientierung, geben aber kein metrisches Gerüst vor.
Mit Ausnahme einer langen Generalpause als deutlicher Zäsur nach etwa einem Drittel des Werks ist eine klare Abschnittsbildung kaum auszumachen. Dennoch folgt die Musik einem nachvollziehbaren dramaturgischen Konzept. Sich verändernde dominierende Intervallkonstellationen, Zentraltöne, wechselnde Texturen, changierende Tempi, spezifische Klänge, Klangfelder und Ausdruckshaltungen halten die Musik ständig im Fluss und öffnen unablässig neue Hörperspektiven und Zusammenhänge. Dieser Reichtum und diese Pluralität von Schweitzers Musik stellen gleichzeitig hohe Anforderungen an Interpreten und Rezipienten. Der Nachvollzug der schöpferischen Fantasie des Komponisten ist hier eine anspruchsvolle Aufgabe, die jedoch ein lohnendes Unterfangen ist und eine aufregende musikalische Welt erschließt.
Felix Wörner