Indorf, Gerd
Mahlers Sinfonien
Mit der Popularität und dem breiten Interesse an der Musik Gustav Mahlers ist in den vergangenen 50 Jahren auch die Literatur über den Komponisten deutlich angewachsen. In den Gedenkjahren 2010 und 2011 wird sie dank der aktuellen Mahler-Mania sicher noch größer werden. Es fehlt neben biografischen Schriften an aufs Ganze und Allgemeine bei Mahler zielenden Büchern nicht, angefangen mit Adornos Mahler: eine musikalische Physiognomik.
Das nun vorliegende Buch des Freiburger Musikologen Gerd Indorf geht bei der Frage, was Mahlers Sinfonien sind und bedeuten, einen anderen Weg. Es bringt auf über 500 Seiten eine spezifische Formanalyse der Sätze aller neun vollendeten Sinfonien, des Lieds von der Erde und der Zehnten in der Konzertfassung von Deryck Cooke. Der Autor versucht also, dem Gehalt der Musik Mahlers durch einen genauen Blick in die Noten näher zu kommen. Das klingt trivial und selbstverständlich, ist es aber keineswegs. Nicht nur in den von Indorf gern als Negativbeispiel angesprochenen Booklet- oder Programmhefttexten wird sich gerne blumiger Beschreibungen oder abgehobener Gedankengebäude bedient.
Indorf dagegen greift zu den Partituren und erläutet kenntnisreich und differenziert die konkreten Formverläufe. Er vermeidet jede methodische Einengung, er lässt sich vielmehr offen auf seinen Gegenstand ein. Er schreibt keineswegs nur in musikalischen Fachtermini, sondern benennt viele in ihrem Charakter eindeutige musikalische Gesten bei Mahler auch konkret beim Namen. Zum Beispiel erkennt er im ersten Satz der Dritten Trauer- und Regimentsmarsch als Satztypen.
Vor allem aber begibt sich der Autor fast beständig in den Dialog mit anderen Interpreten und entwickelt seine eigenen Vorstellungen in der kritischen, aber immer sachbezogenen Auseinandersetzung mit vorhandenen Positionen der Mahler-Literatur. Das gibt den Analysen einen breiten Hintergrund, befreit den Blick von überlieferten Denkmustern und lässt den engagierten Leser mitdenken und imaginär mitdiskutieren. Der heiklen Frage nach den tatsächlichen oder vermeintlichen Programmen widmet der Autor ein eigenes, klug abwägendes Kapitel, das bezeichnend für seine klare Sicht auf Mahler ist.
Der vorliegende Band wendet sich keineswegs nur an Musiker und Musikwissenschaftler. Er ist auch für Mahler-Liebhaber und solche, die es werden wollen, von erheblichem Wert.
Um klar zu machen, über welche Stellen er spricht, liefert der Autor neben Takt- auch Zeitangaben. Und da greift er in der Hauptsache auf die Gesamtaufnahme der Sinfonien unter Rafael Kubelik zurück, die zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten ist und als Meilenstein der Mahler-Diskografie kaum recht gewürdigt wurde. Sie ist in ihrer klaren, flüssigen und unideologischen Art aber Ausdruck einer vorurteilsfreien Sicht auf Mahlers Musik. Genau die macht nicht zuletzt auch den Wert des im übrigen sehr material- und gedankenreichen Buchs von Gerd Indorf aus.
Karl Georg Berg