Böhm, Claudius (Hg.)

Mahler in Leipzig

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg 2011
erschienen in: das Orchester 11/2011 , Seite 63

Biografische Details liefern eher selten auch neue Erkenntnisse über die Musik eines Komponisten. So verhält es sich etwa mit der Nachricht, Gustav Mahlers erster Wohnort in seiner Leipziger Zeit sei nicht wie vermutet in der Gottschedstraße Nummer 4, sondern in der heutigen Nummer 25 zu suchen. Bedenkt man indes, dass später in dem gleichen Haus Walter Ulbricht geboren wurde und zeitweise auch Gustav Stresemann wohnte, so wird aus der Randnotiz im Lebenslauf immerhin ein Faktum von historischem Eigenwert.
Mahler in Leipzig – das ist auf den ersten Blick kein zentrales Thema der Musikgeschichte und dennoch, trotz der unüberschaubaren Menge an Fachbüchern, eine eigene Publikation wert. Kostbar gebunden, aufwändig gesetzt, akribisch dokumentiert, mit reichhaltigem Bildmaterial versehen, dazu zweisprachig und 360 Seiten dick ist dieses von Claudius Böhm herausgegebene Buch nun anlässlich des 100. Mahler-Todesjahres erschienen. Es ist zugleich ein angemessener literarischer Beitrag zum ambitionierten Mahler-Festival, das vom 17. bis 29. Mai 2011 unter Beteiligung höchster Orchesterprominenz in Leipzig stattfand.
Mahler, geboren 1860, kam 1886 als ehrgeiziger junger Dirigent an das Leipziger Stadttheater, um hier als zweiter Kapellmeister neben Arthur Nikisch zu wirken. Zuvor hatte er die Stationen Bad Hall, Laibach, Olmütz, Kassel und Prag durchlaufen, war also kein Frischling mehr – und doch dem etwas älteren Nikisch stets einen Schritt hinterher. Die Konkurrenz zu dem späteren Gewandhauskapellmeister prägte die Leipziger Jahre so sehr, dass Mahler mehrfach gerne gekündigt hätte, wenn man ihn denn gelassen hätte. Ein Streitpunkt war dabei die Leitung von Wagners Ring, der in Leipzig erstmals erklingen sollte. Zuerst übergangen kam Mahler doch noch zum Zuge, als Nikisch erkrankte. Wie an seiner Musik schieden sich auch am Menschen und Orchesterleiter Mahler damals die Geister: Sein Dirigierstil war innovativ, aber vielen zu impulsiv. Sein Umgang mit Sängern und Instrumentalisten effektiv, grenzte aber an Despotie. Glück­licher­weise banden ihn in der zweiten Spielzeit kompositorische Aufgaben: Einige Wunderhorn-Lieder, die Vollendung oder besser Neukomposition des Weber’schen Lustspiels Die drei Pintos und schließlich die erste Sinfonie.
All diese und viele weitere Einzelheiten arbeitet in mehreren Beiträgen Sonja Riedel heraus, die zu dem Thema auch ihre Magisterarbeit verfasst hat. Im Grunde hätte man das Buch damit schon veröffentlichen können. Weitere Aufsätze beleuchten Mahlers Leipziger Zeit aus anderer Perspektive (der Weg zur Sinfonie, Mahler und die Leipziger Judenheit, des Knaben Wunderhorn u.a.m.), manchmal sinnvoll, manchmal etwas redundant im Verhältnis zu Riedels Texten, bisweilen auch ohne erkennbaren Bezug zum eigentlichen Sujet (Musikkultur der Leipziger jüdischen Gemeinde). Hingegen fehlt leider ein umfassender Beitrag zur Leipziger Mahler-Rezeption. Dies schmälert – ebenso wie der stattliche Preis – etwas den Wert der ansonsten überzeugenden Publikation.
Johannes Killyen