Ruhnke, Ulrich
Made in Taiwan
Mit Liebe und Willen: Taiwan schließt an die internationale Klassikszene an
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Auszug:
Er ist der Größte. In Bronze gegossen, kolossal, mit riesenhaftem Haupt und visionärem Blick. Hier oben in der hehren Halle auf dem monumentalen Treppensockel im Zentrum von Taipeh liegt ihm, Chiang Kai-shek, die Stadt zu Füßen. Außerdem sitzt ihm der Kaiser zur Rechten und die Kaiserin zur Linken. Natürlich nicht realiter. Auch nicht als Denkmäler flankieren sie ihn, sondern als Architektur gewordene Erinnerung, als zwei Tempel. Die beiden wesentlich niedrigeren Bauten sind der Gedächtnishalle, in der die Statue Chiang Kai-sheks verehrt wird, vorgelagert und mit Ornamenten verziert, die einzig dem chinesischen Kaiserpaar vorbehalten sind. Das kundige Auge erkennt hierin nicht nur ein Symbol für die Präsenz der zwei Hoheiten, sondern kann auch ihr Geschlecht unterscheiden. Feine Abweichungen in der Formensprache machen es möglich. Darüber hinaus erkennt es in der Symmetrie der Gebäude und der Anlage des Platzes dazwischen eine Anspielung auf die Verbotene Stadt in Peking, Zentrum und städtebaulicher Ausdruck ehemals uneingeschränkter kaiserlicher Gewalt ein Symbol der Macht. Doch transferiert hier nach Taipeh ist es zu einem der Ohnmacht geworden, Kaiser und Kaiserin werden vorgeführt als Unterworfene, gedemütigt, damit der neue Machthaber in umso glanzvollerem Licht erstrahle: Chiang Kai-shek, der Vater des neuen Taiwan.
In jungen Jahren war Chiang Mitläufer der Bewegung, die 1912 die chinesische Kaiserdynastie zum Umsturz brachte, später schaffte er es sogar bis ins Präsidentenamt der noch jungen Re publik. Doch als 1949 sein erbittertster Politfeind, Mao Tsetung von der Kommunistischen Partei, die Macht an sich reißt, flieht Chiang mit seinen Gefolgsleuten auf die China vorgelagerte Insel Taiwan. Auf dem vormals auch Formosa genannten Eiland proklamiert er die provisorische Republik China und erklärt sie als unabhängig von Festland-China, das sich unter Mao nun Volksrepublik China nennt. Zwei Staaten sind entstanden, die ihrem Volk gleichermaßen Glück versprechen, zunächst aber nur Unglück bringen und das Land mit Gewalt über – ziehen. Die Jahrzehnte nach 1949 sind für die taiwanesische Bevölkerung geprägt von Chiangs Willkürherrschaft und von internationaler Isolation. Erst als der Diktator 1975 stirbt, beginnt langsam die Zeit des Umbruchs. Und wie so oft in einem System, das im Niedergang begriffen ist, holen die Systemträger, das Ende genau erspürend, zu letzten großen Taten aus. Nicht selten sind es bloß Gesten, groß, aber kraftlos, das Bestehende realitätsfern lobpreisend und große Denkmäler in die Erde setzend.
Auch das nach mehrjähriger Bauzeit 1980 eingeweihte Ehrenmonument für Chiang ist das Produkt eines solch verklärtverzweifelten Vorgehens. In für Totalitarismus typischer Gigantomanie errichtet, hat es die Freiheitsbestrebungen des Volkes doch nicht unter sich begraben können. Mitte der 1980er Jahre wurde die erste Oppositionspartei gegründet, wurde das seit Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer bestehende Kriegsrecht aufgehoben. Langsam begann die Demokratisierung des Landes, die 1996 mit der ersten freien und direkten Präsidentenwahl ihren ersten großen Sieg feierte. Taiwans heutiges Hauptziel ist die offizielle Anerkennung seiner staatlichen Souveränität. Doch weder die Volksrepublik China noch der überwiegende Teil der internationalen Staatengemeinschaft will ihm diese vollständig zugestehen. Lediglich 20 kleinere Länder hat Taiwan als diplomatische Befürworter. Der chinesische Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits 1971 der Volksrepublik China und nicht der Republik China respektive Taiwan zugesprochen. Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt weiterhin konsequent ihre Ein-China-Politik und unterhält in Taipeh auch keine Botschaft, sondern nur ein Deutsches Institut.
Gleichwohl das Land heute politisch nach seiner Position noch sucht, wirtschaftlich hat es diese längst gefunden. Made in Taiwan war schon vor 20 Jahren ein wohlbekanntes, weil weit verbreitetes Qualitätssiegel, wenngleich mit zweifelhaftem Ruf. Billige Massenprodukte in unserer Erinnerung haben sie in Taiwan ihr Ursprungsland. Heute ist die Insel Heimat weltweit höchst respektierter Mikrochip- und Plasmatechnologie. Die Wirtschaft boomt. Im Rücken Chiang Kai-sheks, im nur wenige Kilometer entfernten, trendigen und ganz der Zukunft zugewandten Ostbezirk ist ein beredtes Zeichen dafür in den Himmel gewachsen. Mit seinen 508 Metern überragt es die 70 Meter hohe Gedächtnishalle Chiangs um ein Vielfaches und die davon höchstens noch einmal die halbe Höhe erreichenden kaiserlichen Tempel sowieso: Taipei 101, das derzeit höchste Gebäude der Welt (und es steht natürlich in Taiwan und nicht in Festland- China). Mit seinen 101 Stockwerken spielt es nicht nur auf einen die Hundertprozentmarke übertreffenden Perfektionismus und die Zahlen des binären Systems (die Eins und die Null) an, mit denen auf den technologischen Aufschwung des Landes und den damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolg hingewiesen wird. Es stellt zudem Chiang Kai-shek gnadenlos in den Schatten und zeigt unmissverständlich an, nach welcher Religion hier jetzt gelebt wird: Geld, der Gott des nochmals neuen Taiwan.
Nicht ganz. Nicht nur ihm und dem Fortschritt ordnet das neue Taiwan einen hohen Stellenwert zu, sondern auch der Kultur. Immerhin mussten Kaiser und Kaiserin für sie ihren Platz räumen: Das Spiel mit den Anspielungen, das Aufwerten und Abwerten durch bauliche Zitate und architektonischen Bedeutungsmaßstab wurde von den Taiwanern auf die Spitze getrieben, als sie den beiden der Gedächtnishalle vorgelagerten Gebäuden äußerlich zwar die Form von Tempeln gaben, sie in ihrem Inneren aber von Anfang an als Konzerthalle und Theater konzipierten. Was auf den ersten Blick leicht kurios anmutet, ist auf den zweiten doch ein klares Bekenntnis. Hier auf dem zentralen Platz Taipehs, im Herzen der Hauptstadt und in Sichtweite der Regierungsgebäude, hat die Kultur ihren Ehrenplatz erhalten.
Klassik in Taiwan
Ein Tempel für Chiang und zwei für die Kultur. Das an sich ist schon bemerkenswert. Noch erstaunlicher aber ist, dass sowohl die Nationale Konzerthalle als auch das Nationaltheater, die zusammen mit weiteren kleineren Bühnen das Nationale Chiang Kai-Shek Kulturzentrum bilden, insbesondere für die Aufführung europäischer Klassik errichtet wurden. Die Konzerthalle orientiert sich mit ihrem schuhschachtelförmigen Innenraum an der Tradition der großen alten europäischen Konzerthäuser, verfügt über eine Recitalhalle u. a. für Darbietungen deutschen Kunstlieds (das steht hoch im Kurs) und nicht zuletzt über eine gewaltige Orgel, die zur Zeit ihres Baus die größte in ganz Asien war. Das Nationaltheater ist ein modernes Rangtheater mit Orchestergraben und für die Aufführung westlichen Opernrepertoires geeignet. An der visuellen wie der akustischen Gestaltung beider Auditorien waren Fachleute aus Deutschland wesentlich mitbeteiligt. Die Bühnenmaße des Nationaltheaters sind gar identisch mit jenen des Pfalzbau-Theaters in Ludwigshafen. Prächtige Foyers mit klassischen europäischen Architekturformen und traditionellen asiatischen Ornamenten schlagen die Brücke nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen zwei großen Kulturen. Ihr Austausch jedoch ist vornehmlich einseitig.
Wie kommt das? Wie kommt es, dass Taiwan zur Pflege der europäischen Künste zwei Prachtbauten initiiert? Umgekehrt stand in Deutschland niemals zur Debatte, mit öffentlichen Mitteln ein chinesisches Theater zu eröffnen.
Warum und seit wann die europäische klassische Musik in Taiwan geliebt und gepflegt wird keiner kann diese Frage so recht beantworten. Christliche Missionare zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder die Japaner, die zwischen 1895 und 1945 auf der Insel regierten und die europäische Klassik schon damals kultivierten, etablierten in Taiwan ein entsprechendes Musik leben und damit den Beginn einer Entwicklung, die derzeit massiv an Geschwindigkeit und Einfluss gewinnt. Wie in Festland-China erfreut sich die Klassik auch in Taiwan einer immer größer werdenden Beliebtheit. Wie bei kaum einer anderen außereuropäischen Kultur trifft sie hier auf ein tiefes Verständnis und eine positive Aufnahmebereitschaft, die über eine bloße Affinität weit hinausgeht. Jürgen Gerbig, Direktor des unter dem Namen Deutsches Kulturzentrum firmierenden Goethe-Instituts in Taipeh und seit vielen Jahren in Asien beheimatet, stellt eine geradezu naturgegebene Kongenialität nicht nur der Taiwaner und Chinesen, sondern der Asiaten überhaupt zur europäischen Klassik fest eine angeborene Gefühls-, Gemüts- und auch Geistesverwandtschaft, in der er den eigentlichen Schlüs sel zum Erfolg der Klassik in Fernost sieht. Bei aller offensicht lichen Unterschiedlichkeit hinsichtlich kultureller und gesellschaftlicher Traditionen und Prägungen gibt es zwischen Europäern und Asiaten anscheinend verborgen doch mehr Gemeinsamkeiten, als man gemeinhin geneigt ist anzunehmen. Dennoch steht die Frage im Raum: Warum ist europäische Musik in Asien nicht nur erfolgreich, sondern zugleich erfolgreicher als traditionelle chinesische Musik?
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