Shchedrin, Rodion

Lyrische Szenen für Streichquartett

Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2008
erschienen in: das Orchester 04/2009 , Seite 62

Darüber, was heutzutage unter dem subjektiv empfundenen Wörtchen „lyrisch“ zu verstehen ist, gehen die Meinungen ziemlich stark auseinander. Im „Lyrischen“ als wahrem Ausdruck und Darstellung der inneren Bewegung des Gemüts fühlte sich seit der Antike der poetisch erbaute Zuhörer bis in die Romantik hinein in eine andere Welt der „Blauen Blume“ versetzt, träumerisch lehnte er sich zurück und ließ seine empfindsame Seele in metaphysische Sphären entschwinden.
Bei den “Lyrischen Szenen für Streichquartett” von Rodion Shchedrin, welche als Auftragskomposition des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD München bereits im Jahr 2006 geschrieben und dort auch am 11. September 2008 im Semifinale uraufgeführt wurden, scheinen die gefühlshaften Zusammenhänge und einstigen Wertordnungen negiert oder zumindest zum Teil aufgehoben, teilweise in neuer Perspektive verfremdet wiedergegeben, vielleicht auch neu definiert. Die bewegten lyrischen Komponenten, die sich im atmosphärischen Weben der Triolen, hart umkämpften, teilweise kratzigen Sextolen, ab Takt 79 schließlich in Zweiunddreißigsteln und zum Schluss nach kurzem Innehalten ab Takt 126 in einem wahnwitzig schnellen „Allegro vivo“ äußern, sinken zur abstrakten Struktur hinab und werden zur Spielwiese aktiver Imaginationen, die sich in Zerrissenheit assoziativ anmelden. Auch der Tonalität ist nicht immer zu trauen, ist sie doch auf Klang, nicht unbedingt auf funktionelle Harmonik aus, obwohl der durchscheinende, grell-plakative fast A-Dur/Moll-Teil, Takt 94 ff., trotzdem überraschend fahl daherkommt und durch die störend-arbeitende Bratsche das Klanggerüst unstet, unentspannt und wackelig wirken lässt und unruhig-nüchtern die lyrische Zurückgezogenheit der Liegetöne ausbremst.
Der inzwischen 76-jährige, in Moskau geborene Komponist offeriert seinen Lyrismus nicht in aller Breite, auf den sich der Zuhörer einstellen könnte, sondern Shchedrin betritt nur kurz Emotional-Räume – Szenen genannt – und beleuchtet schlaglichtartig in wechselnder Umschau, so wie man vielleicht alte Dias vom letzten Urlaub durchsieht oder es von schnell wechselnden Werbeblöcken her kennt, effektvoll einzelne Passagen, die aneinandergereiht werden und in einem Quasi-Tremolo-Schluss mit dem gläsern wirkenden, ersterbenden sul-ponticello-Effekt nach etwa neun Minuten Aufführungsdauer im Nichts mit beredtem Schweigen enden.
Das Werk birgt zum Teil immens hohe spieltechnische Schwierigkeiten. Der Druck selbst ist akkurat gestochen und gut lesbar, in der Bratschenstimme teilweise sogar recht großzügig aufgeteilt. Aufgrund der häufigen Szenenwechsel und den daraus resultierenden Pausen sind die Seiten auch gut umzublättern.
Werner Bodendorff