Koch, David
Louis Spohrs groß besetzte Kammermusik
Ein Beitrag zur Gattungsentwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Als Geigenvirtuose, Konzertmeister und Hofkapellmeister hat Louis Spohr das Musikleben seiner Zeit maßgeblich geprägt; als Komponist hat er mit originellen neuen Ideen die Erweiterung der Kunstformen vorangetrieben, hat Singuläres geschaffen und Wegweisendes versucht: kühne Harmonien, extravagante Programmsinfonien, originelle Konzertformen und groß besetzte Kammermusik.
Letzterer gilt David Kochs grundlegende Betrachtung, die erstmals diese zwanzig Werke (von insgesamt 133 in Spohrs Kammermusikschaffen) in den Fokus nimmt. Betrachtet werden Besetzungstyp, Ensemblegröße und Entstehungszeit, das musikhistorische und biografische Umfeld, die kompositorische Spezifik sowie der Kontext zu Zeitgenossen und Nachfolgern. Als groß besetzte Kammermusik gelten jene Werke, die die Quartettgröße überschreiten. Spohr hat sie über eine Zeitspanne von viereinhalb Jahrzehnten geschrieben; dazwischen auch Bravourstücke, Streichquintette, Klavierquintette, Doppelquartette sowie je ein Streichsextett, Oktett und Nonett.
Doch obwohl Spohr frühzeitig zum Wegbereiter groß besetzter Kammermusikformen wurde und die Gattungsgeschichte mitbegründet hat, war er an der Emanzipation von Kammermusik im öffentlichen Konzertleben nur partiell beteiligt. Das erfolgreiche Nonett op. 31 und das Oktett op. 32 entstanden 1813/14 im Auftrag des Wiener Tuchfabrikanten Johann Trost für dessen private Soireen. In Kassel erklangen die meisten Werke erst im häuslichen Quartettkränzchen, ehe sie in die Abonnementkonzerte der Hofkapelle gelangten. Und nur die Streichquintette durchziehen wie die 36 Streichquartette Spohrs Kammermusik wie ein roter Faden, ansonsten ballen sich die Schaffenszeiten: Wien 1813/14 sowie die frühen (1823-1834) und die späten Jahre (1845-1853) in Kassel.
Während die großen Besetzungen mit Bläsern sinfonische Akzente setzen, hat die Mitwirkung des Klaviers das schwere Konzertstück zur Folge, und der brillante Part der Violine verleugnet den Virtuosen Spohr nicht. Die Doppelquartette experimentieren mit Raumklang und Satzstrukturen. Und die orchestrale Klangfülle des Sextetts verleiht dem Hochgefühl von 1848 Flügel. Spohrs groß besetzte Kammermusik versammelt alle wichtigen Gattungstypen, sie stellt die Innovationskraft des Komponisten unter Beweis und ist vom romantischen Autonomiedenken bestimmt am Ende aber verlieren die neuen Kunstformen an Frische, Reiz und Wirkung.
Umso mehr kann die Veröffentlichung von David Koch das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, den forschenden Blick über die Werke Spohrs hinaus auch auf den breiten Strom der Kammermusikentwicklung in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts geworfen zu haben. Der Leser wird da viele verschollene oder unbekannte Schönheiten entdecken zumal der umfangreiche Anhang eine wahre Fundgrube öffnet. Und jedem Musiker dürfte das Herz aufgehen, der das Repertoire mit Preziosen und Raritäten bereichern will
Eberhard Kneipel