Shchedrin, Rodion

Lolita

Opera in two acts, based on Vladimir Nabokov's novel, Klavierauszug

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: das Orchester 06/2007 , Seite 76

Gewalt, Leidenschaft, Lust, Besessenheit, Trivialität, Vulgäres, Paradies und Hölle, Strafe und Sünde… Die Liste könnte weiter und weiter geführt werden. Ein gewagter Versuch, „einen Roman nicht für schwache Nerven“, wie es der Komponist einst formulierte, zu vertonen. Doch es handelt sich keineswegs um eine „Vertonung“, sondern um eine neue Sicht, ein neues Verständnis des makaber-grotesken, spielerischen und träumerischen, nostalgischen und brutalen, zutiefst schockierenden Werks. Gewagt! Nabokov führt ein raffiniertes Katz-Maus-Spiel mit dem Leser. Man soll diesem Schriftsteller nie vertrauen: Wenn man eine Erleichterung fühlt und glaubt, endlich den Autor zu verstehen, wird man sofort bestraft: Wieder und wieder erweist sich die „Realität“ als etwas zutiefst Verwirrendes, Fantastisches und Unfassbares. Man betritt nie festen Boden, sondern fühlt sich eher im Sumpf, wo alles extrem sicher und zugleich gefährlich, irreal ist.
Der Roman irritierte seine Kritiker zutiefst: „Pornografie?“ Wieso denn ist die Stilistik und Poetik so kompliziert, der Held so krankhaft, verzweifelt und zugleich grotesk? Bereits der Name „Humbert Humbert“ erweckt Assoziationen mit einer Parodie und zugleich mit Namensspielchen bei Fjodor Dostojewsky, den Nabokov zu bekämpfen versuchte. „Tradition?“ Wieso gibt es so viel ironische Distanz? Die Verflechtung der Einzelheiten ist viel zu dicht, man wird selbst immer unsicherer und verliert ebenfalls den Boden unter den Füßen. Noch mehr: Wieso hasst der Autor so leidenschaftlich alles, was mit „normalem Dasein“, „spießbürgerlicher Moral“ zu tun hat, wieso attackiert er so heftig bzw. dämonisiert er alle Kennzeichen und Symbole der Konsumgesellschaft, sei es Werbung, Bezeichnung konkreter Güter oder „Kulturwaren“? „Postmodern“? Wieso wird denn diese Mischung aller erkennbaren „kulturellen Werte“ so offensichtlich verurteilt?
Also: Vorsicht mit diesem Schriftsteller! Und Vorsicht mit diesem Komponisten! Rodion Shchedrin erweist sich seit Langem als geschickter Wort- und Tondramatiker, als Meister komplizierter Spiele, als Herrscher des Theatralischen. Allein sein Lolita-Libretto ist ein Meisterwerk: In der Neuinterpretation des raffinierten Gewebes Nabokovs werden die treffendsten Redewendungen eingeschlossen und übertragen die spezifische Aura des Romans. Musikalisch gesehen ist das Werk ein echtes Muss für Interpreten und Regisseure und reichhaltiger Stoff für diejenigen, die keine Angst vor neuen Visionen bzw. Versuchen und Versuchungen haben. Vielleicht das Wichtigste: Hinter allen komplizierten und deutlichen Anspielungen erweckt die Oper eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Unverdorbenen, Ewigen, Heiligen. Die Engelstimmen des Knabenchors erwecken die Hoffnung auf das Überwinden der Einsamkeit, Verklärung und Wiedergeburt.
Marina Lobanova