Zender, Hans

Logos-Fragmente (Canto IX)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6765 2
erschienen in: das Orchester 01/2014 , Seite 80

Hans Zender dirigiert. Hans Zender komponiert. Hans Zender beherrscht die geschliffene Rede und führt eine spitze Feder. Ein vielseitiger, wort- und klanggewaltiger Intellektueller und Künstler! Zeitlos aktuell ist Zenders vor über zwanzig Jahren erschienene Streitschrift, die unter dem Titel Happy New Ears gegen die Seichtheit des Hörens in der Gegenwart polemisiert, um für diese Wahrnehmung zugleich eine Balance aus Analyse und Sinnlichkeit zu reklamieren und das Hören damit auf die Höhe einer Kunst zu heben.
Diese Kunst ist nicht voraussetzungslos. Es ist daher ratsam, sich vor dem Hören der 77-minütigen Aufnahme der Logos-Fragmente für 32 Singstimmen und vier Orchestergruppen in dieses Werk quasi „einzulesen“. Ulrich Mosch schildert im Booklet, wie die Musik Zenders einer komplexen Konstruktion folgt. Formal geht es dem Komponisten um die Übersetzung von Text und Sprache in Musik, das gegenseitige Durchdringen, inbegriffen der Kontext der Worte, Sprechsituationen oder geradezu bildliche Beschreibungen. Die Vielstimmigkeit des Chors und der Instrumentengruppen verfolgt kein bloß ästhetisches Prinzip, sie spiegelt vielmehr einen Zustand vom Beginn des Christentums als einer Zeitenwende: die Vielfalt der Schriften in verschiedenen Sprachen, das Durcheinander der zahllosen fixierten Äußerungen zu Glaubens- und Menschseinsfragen, die im frühen Christentum kursierten. Zender geht über den biblischen Kanon, der Ordnung stiften und eine Richtung vorgeben wollte, hinaus. Er lässt sich auch vom Talmud und dem apokryphen, das heißt: nicht-biblischen Thomas-Evangelium faszinieren, vor allem aber doch vom Johannes-Evangelium: Im Anfang war das Wort, das Wort Gottes, der Logos.
Ein zyklischer Gedanke steht nicht dahinter. Fragment bezieht sich nicht nur auf die gezielte, bruchstückhafte Textauswahl, sondern auch auf die mögliche Aufführung nur einzelner Teile oder des Ganzen, unter dem Titel Canto IX firmierenden (und damit eine Stellung in Zenders Schaffen signalisierenden) Werks in freier, unnummerierter Reihenfolge. Die vorliegende CD beginnt mit dem Fragment II: Passion, um mit der vielsprachigen und -stimmigen Rede über den (Heiligen) Geist aus der Apostelgeschichte zu schließen. Der wunderbaren Idee einer göttlich inspirierten, dennoch frei waltenden, metaphysischen Intuition kann auch Zender nicht widerstehen. Die Vielfalt und Farbigkeit der erfundenen Klänge ist grandios – Zender nutzt neben den klassischen Instrumenten u.a. viel Schlagwerk, zwei in Vierteltönen gestimmte Klaviere und Gitarre.
Aufgestellt werden soll der Aufführungsapparat im Halbkreis vor dem Publikum. Hier stößt der Tonträger, auch wenn er die besten nur denkbaren Interpreten für diese Musik aufbietet, eindeutig an Grenzen. Die CD ist als Dokument zu verstehen, als Hommage an den – zum Zeitpunkt der Aufnahme – 75-jährigen Künstler (und ersten Gastdirigenten des Orchesters). Sie fordert überdies auf, im Zender’schen Sinn mit Musik umzugehen: sich zum lebendigen Klang zu bekennen, sich im Moment des Entstehens und Verschwindens mit seinem Inhalt auseinanderzusetzen, sich der Musik verständnisvoll hinzugeben – oder einfach aufmerksam zuzuhören!
Andreas Bomba