Mendelssohn Bartholdy, Felix

Lobgesang

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Preiser Records PR 90796
erschienen in: das Orchester 11/2011 , Seite 72

Im Jahr 1840 als Auftragswerk für das Leipziger Gutenberg-Fest zum 400. Jubiläum der Erfindung des Buchdrucks komponiert, ist Mendelssohns heute allgemein hochgeschätzte Sinfonie-Kantate Lobgesang bei ihren „aus höherer Warte“ urteilenden Fachkritikern (an vorderster Stelle Richard Wagner) auf Ablehnung gestoßen. Ihre formale Anlage, die Vermischtheit von Orchester- und Vokalkomposition legte die Verwandtschaft zu Beethovens 9. Symphonie nahe, ließ jedoch das Original in weit hellerem Glanz erscheinen.
Diese abfällige Einschätzung war mit ein Grund für die zunehmenden Ressentiments gegen Mendelssohn im 20. Jahrhundert. Erst in den vergangenen Jahrzehnten erlebte im Zuge der Mendelssohn-Renaissance auch sein Lobgesang eine Wiederbelebung. Heute hat die von drei reinen Orchestersätzen eingeleitete Psalm-Komposition – wenn auch nicht unbedingt von der Präsenz im Konzertsaal her gesehen, so aber doch an der Zahl ihrer Einspielungen gemessen – einen ebenbürtigen Platz zwischen der „Italienischen“ und der „Schottischen“ Sinfonie gefunden.
Auch das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich hat nun unter seinem Dirigenten Andrés Orozco-Estrada zusammen mit einer namhaften Solistenriege und dem 1991 gegründeten und heute zu den führenden ös­terreichischen Vokalensembles zählenden „Chorus sine nomine“ eine neue Aufnahme vorgelegt. Entstanden ist sie als Livemitschnitt eines Konzerts vom Oktober 2010 im Wiener Musikverein. Das traditionsreiche Tonkünstler-Orchester erweist sich hier als ein sehr disziplinierter Klangkörper, der auf die Weisungen des 1977 in Medellín (Kolumbien) geborenen Dirigenten Orozco-Estrada, der dem Orchester seit der Saison 2009/10 als Chef vorsteht, sehr agil und impulsiv zu reagieren vermag, sich aber zugleich auch fähig zu kontinuierlicher Entwicklung und Steigerung zeigt. Vordergründig eher zu einer fülligen Klangvorstellung neigend und dabei zwischen einem tonlich runden Fließen und einer kantigen, energischen Linienführung geschickt vermittelnd, versteht es Oroz­co-Estrada, die Architektur und die Struktur der dem Vokalteil vorangestellten Instrumentalsätze doch erstaunlich feingestuft und spannungsreich aufzugliedern und so zu einer luziden und analytischen Transparenz der Satztechnik beizutragen. Gleich einem Rezitativ weiß die Klarinette dabei völlig ungezwungen und sehr ge­schmeidig in das dem Kopfsatz nachfolgende Allegretto un poco agitato zu gleiten, für das Orozco-Estrada im Ausdruck das rechte Gespür für die dem Satz eingeschriebene Melancholie aufbringt und in dem sich das Orchester zudem mit sehr homogenen Bläsersätzen ausweisen kann. Sämig, dabei aber fließend im Gestus bekommt man das Adagio religioso zu hören, womit der Dirigent zielbewusst auf den Vokalteil von Mendelssohns Lobgesang zusteuern kann. Der Chorus sine nomine überzeugt dabei mit Flexibilität und Strahlkraft, er singt sehr ambitioniert und stimmlich meist ausgeglichen. Er weiß den Chorabschnitten mit seiner sprechenden Ausdrucksgebung ein spannkräftiges Profil zu geben. Dies lässt sich auch von der hochkarätigen Solistenriege sagen, wobei allerdings Oelze die Spitzentöne gerne etwas anschleift und Bostridge ein wenig zum Schwärmerischen neigt.
Thomas Bopp