Ljulka
Der bulgarische Trompeter Sava Stoianov, Mitglied des Ensemble Modern, ist nicht nur ein mit allen Wassern moderner Blastechnik gewaschener Virtuose seines Instruments, der auch das Flügelhorn beherrscht und sich auf die schwierige Kunst des Zink-Blasens versteht. Seine musikalische Feuerseele treibt ihn auch, der Königin Trompete neue Klangreiche zu erschließen. Unablässig fahndet er nach originellen Stücken und verleitet Komponisten, die Trompete und ihre Verwandten mit so artfremden Instrumenten wie Violoncello oder gar Blockflöte zu verkuppeln. Zusammen mit befreundeten Musikern spürt er unerhörte Klangwelten auf. Immer openminded: ohne ästhetische Prüderie, Spartendenken, Genrebarrieren. Komponiertes und Improvisiertes, Volkstümliches und Kunstgelehrtes, Unterhaltsames und Spekulatives, Genaues und Ungefähres, Gauklerisches und Versonnenes, Vertracktes und Schlichtes ergänzen sich zu einem Kosmos, in dem alles irgendwie mit allem zusammenhängt.
Von einer virtuosen Fanfare des Russen Edison Denisov eingeleitet, beginnt die interkulturelle Klangreise in der Heimat des Trompeters. Genauer: in den Rhodopen, jenem waldreichen Mittelgebirge im Süden Bulgariens, in dessen abgelegenen Dörfern sich die alten Volksgesangsweisen über die Jahrhunderte rein erhielten. Rodopi heißt die wundersame Meditation über das Dialektlied Geh, Mädchen, kein Wasser holen für bulgarische Frauenstimme und Flügelhorn ohne fixes Metrum, doch sanft pulsierend. Die charakteristischen, ornamentartigen Ton-Umspielungen und gleitenden Tonverbindungen erinnern an orientalische oder indische Musik. Mit der Gadulka, der bulgarischen Fidel, und Zink bzw. Trompete fantasieren Georgi Andreev und Sava Stoianov über drei weitere Volkslieder des Balkanlandes: Bist du eine Tulpe, bist du eine Hyazinthe?, ein Mädchenlied aus der Dobrudscha (Nordbulgarien), und zwei Lieder aus der Schop-Region um Sofia, die für ihre raschen Tempi und sekunden-scharfe Zweistimmigkeit bekannt ist (Schwebungs-Heterofonie). Gadulka und Trompete imitieren im letzten Lied die antifonische Vortragsweise der Frauen. Der Gesamttitel Zwei Paraphrasen über Koutev verweist auf die Vaterfigur der Volkslied-Bearbeitungskunst in Bulgarien, Philip Koutev.
Unter dem kyrillisch auf die Frontseite und ins Programm gedruckten Titel Ljulka (Wiege, Schaukel, Wippe) verlieren sich Valeri & Sava (der Posaunist Valeri Pachov und der Trompeter Sava Stoianov) gegen Ende des Hör-Abenteuers fünf spannende Minuten lang in die Seelenlandschaften des Balkans, hin- und herwippend zwischen ausgezogenen und blubbernden Tönen, tenuto und frullato.
Passend danach der spukhaft verwunschene Slip in the night Tango für Trompete und Melodica von Cathy Milliken und die genialisch verrückten Mysteries of the Macabre: drei Arien aus György Ligetis Oper, hier in einer Version für Trompete, Klavier und Geräusch-Zubehör. Hörenswert außerdem die kleine Trompeten-Suchreise Ricercare una melodia des Engländers Jonathan Harvey und das freche Duo for Trumpet and Cello von Israel Sharon. Die abgedruckten Farbfantasien von Benedict Mason sagen mir mehr als seine Exerzitien für zwei Cornetti bzw. Piccolo-Trompeten.
Lutz Lesle