Anna Dalos, Márton Kerékfy, Heidy Zimmermann (Hg.)

Ligeti-Labyrinth

Ein Streifzug durch das Schaffen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Paul Sacher Stiftung/Schott, Basel/Mainz
erschienen in: das Orchester 7-8/2024 , Seite 67

Diese facettenreiche, gut zu lesende und erhellende Begleitpublikation entstand zur Hommage Ligeti-Labyrinth. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von György Ligeti für das Musikhistorische Museum Budapest und das Musikmuseum des Historischen Museums Basel 2023/24. Der Titel bezieht sich auf Ligetis Bekenntnis in einem Vortrag 1991: „Von Werk zu Werk taste ich mich voran, in verschiedenen Richtungen, wie ein Blinder im Labyrinth.“
Die meisten der 137 Exponate aus der Sammlung György Ligeti in der Paul Sacher Stiftung Basel wurden abgebildet – mehrere erscheinen erstmals in Druck. Von besonderer Bedeutung sind Dokumente, welche die vielfältigen Mittel der Musik- und Effektnotation des am 28. Mai 1923 in Siebenbürgen geborenen und am 12. Juni 2006 in Wien gestorbenen Komponisten gegenüberstellen – zum Beispiel die Symbole des Internationalen Phonetischen Alphabets für den 12-stimmigen Frauenchor in Clocks and Clouds (1972/73) oder die bunt geschriebenen, über- und untermalten Verbalskizzen.
Der Kooperation der Paul Sacher Stiftung mit dem Archiv für ungarische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts Budapest ist es zu verdanlen, dass Ligetis in Mitteleuropa weniger bekanntes, die Auseinandersetzung Bartóks und Kodálys mit Volksmusik aufgreifendes Frühwerk angemessene Würdigung erfährt. So erscheint im Ligeti-Labyrinth dessen kompositorisches Vermächtnis als Bogen, in dem nach größtmöglichen Grenzausschreitungen Ligetis erneute Studien mit ethnischem Musikmaterial stehen. Inspirationen zu „Synthetischer Volksmusik“ (Márton Kerékfy) gewann Ligeti auch durch „Rhythmische Entdeckungen“ (Anna Dalos) aus der im Band abgebildeten Literatur und Diskografie. Gezeigt werden die Transformationen einer Melodie, die Ligeti den „künstlichen Zwitter aus banatrumänischen und serbischen melodischen Wendungen“ nannte.
Einen ebenfalls langen Weg von Ideen, Verwerfungen und selbstkritisch verzögertem Schaffensprozess durchlebte er für seine einzige Oper Le Grand Macabre nach Michel de Ghelderode. Deren früheste kreative Keimzelle war das von Ligeti in seiner Kindheit erfundene Land Kylwiria, dessen fantastische Topografie er als Erwachsener für seine spätere Frau Vera aufzeichnete. Heidy Zimmermann beschreibt Le Grand Macabre als Zenit und Wendepunkt eines erstaunlichen Vermächtnisses zwischen Musikgeschichte und Pop Art. Ligeti selbst nannte sie einen „Flohmarkt“ – resümierend, paraphrasierend und avanciert.
Der Band legt mit Querschnitten und aufschlussreichen Teilaspekten fundierte Koordinaten über ein Gesamtschaffen, das noch lange nicht alles von seinem Gehalt preisgegeben hat. Im Ausstellungslabyrinth stand ein Satz Ligetis an exponierter Stelle: „Kunst darf lügen. Kunst muss etwas vortäuschen, was nicht existiert.“
Roland Dippel