Mahler, Gustav
Lieder eines fahrenden Gesellen/Sinfonie Nr. 4 G-Dur
Eingerichtet für Kammerensemble von Arnold Schönberg & Erwin Stein
Ein inzwischen renommierter Posaunist erlebte die größte Enttäuschung seiner musikalischen Jugend, als er feststellte, dass Gustav Mahler der Inbegriff des Monumentalsinfonikers für seine vierte Sinfonie Posaunen gar nicht vorgesehen hat. Im Laufe seines Berufslebens dürfte dem Posaunisten freilich klar geworden sein, dass Verinnerlichung und Askese im mahlerschen Welttheater ebenso eine Rolle spielen wie Pathos und Gewalt nicht zuletzt in der vierten Sinfonie, die mehr als jede andere aus dem Geist der Kammermusik heraus komponiert wurde. So lag es schon vor vielen Jahrzehnten nahe, diese innigste, liebreizendste Mahler-Sinfonie für kleines Ensemble zu bearbeiten.
Die heute kaum bekannte Einrichtung von Erwin Stein hatte Anfang der 20er Jahre ebenso wie Arnold Schönbergs Bearbeitung der Lieder eines fahrenden Gesellen zuerst einmal ökonomische Hintergründe, denn Orchesterwerke konnten in Schönbergs Verein für Musikalische Privataufführungen kaum realisiert werden. Doch was damals nur als möglichst authentischer Ersatz für das Original gedacht war, eröffnet heute ganz neue Perspektiven auf Werke, die schon viele Dutzend Mal eingespielt worden sind.
Aus dieser Masse tritt die Aufnahme der von Peter Stangel geleiteten taschenphilharmonie mit der Vierten und den Liedern eines fahrenden Gesellen markant hervor. Sie belegt wieder einmal, dass weniger auch mehr sein kann. Sicher: Die Sinfonie verliert auch, und zwar an Pathos und Monumentalität. Wenn hohes Holz, Streichquintett, Klavier und Harmonium sich unter Triangelgebrause zum Fortissimo aufschwingen, so klingt das eher putzig als erhebend. Und die betörenden Stimmungswechsel zwischen Emphase und Gleichmut bedürfen eben doch einer größeren instrumentalen Farbpalette.
Auf der Haben-Seite aber stehen die ungeheuere Sensibilität und Schmiegsamkeit von Solisten, die ein wunderbares Ensemble bilden und zugleich Kraft ihrer Persönlichkeit alle Empfindungen und musikalischen Charaktere wie durch ein Brennglas hindurch vergrößern. Was ist der Gesang einer großen Geigengruppe gegen den Schmelz von Christopher Whites erster Violine? Welches Orchester war den richtigen Wiener Schrammeln je so nahe? Wann wurde deutlicher, wie verstörend kühn Mahler die polyfonen Passagen im zweiten Satz gesetzt hat? Wo hat es schon einmal so wütende Holzbläserattacken gegeben im letzten Abschnitt?
Peter Stangel und die taschenphilharmonie nutzen die Stärken ihrer Besetzung und stehen offensiv zu den Schwächen wobei die klanglichen Unterschiede zum Original in der Sinfonie deutlicher ausfallen als in den vier Liedern, die von einer präsenten, souveränen Susan Maclean (Mezzosopran) dominiert werden. Die himmlischen Freuden im Schlusssatz der Vierten kann man mit der Sopranistin Hélène Lindqvist ausgesprochen gut genießen.
Johannes Killyen