Kreutziger-Herr, Annette / Melanie Unseld (Hg.)
Lexikon Musik und Gender
Die Gender-Forschung (der schlecht übersetzbare englischsprachige Terminus Gender für das sozioökonomische im Gegensatz zum biologischen Geschlecht ist inzwischen im Deutschen eingebürgert) hat in den letzten Jahrzehnten auch im musikalischen Bereich erheblichen Aufschwung genommen. Eva Riegers Studie Frau, Musik und Männerherrschaft von 1981 gilt als ihr Beginn. Inzwischen ist sie mit der Errichtung entsprechender Lehrstühle im akademischen Bereich institutionell verankert, und darüber hinaus liegt nun, was ihre Anerkennung weiter bestätigt, ein Lexikon Musik und Gender vor, herausgegeben von den beiden Professorinnen Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld.
Es wäre freilich ein ganz falscher Eindruck, dass das, was einmal lexikalische Gestalt angenommen hat, auch arriviert und auf dem Denkmalssockel angekommen sei. Nach wie vor befindet sich die Gender-Forschung im Kampf gegen patriarchalische Deutungsmuster, wie man diesem sich selbst als vorläufig begreifenden Lexikon anmerkt, welches weniger mit gut abgehangenem Wissen aufwartet, als dass es Defizite benennt und Frontberichterstattung betreibt. Dass die Gender-Forschung nach wie vor umstritten ist, wird (Stichwort Kritik an Gender Studies) sogar im Lexikon selbst konstatiert. Auffällig ist zudem, dass sich unter den Mitarbeiterinnen des Bandes nur eine geringe Anzahl Autoren findet: Nach wie vor scheint die Gender-Forschung primär das Anliegen einer von weiblicher Seite betriebenen Emanzipationsbewegung. Das im Vorwort angesprochene Ziel einer symmetrischen Musikgeschichtsschreibung ist auch in dieser Hinsicht noch fern.
Die Personaleinträge bieten Porträts ausgewählter Komponistinnen, Instrumentalistinnen, Sängerinnen und Dirigentinnen, weiter von Musikpädagoginnen, -schriftstellerinnen und -wissenschaftlerinnen, dazu noch von Mäzeninnen und Frauen in der Funktion der Muse (etwa bei Alma Mahler-Werfel). Die Sacheinträge sind gelegentlich zu Themenclustern verdichtet, deren Einzelaspekte durch Verweise erschlossen werden. Nur zum geringen Teil widmen sie sich im engeren Sinn musikalischen Fachbegriffen. Artikel zu Dekonstruktion, Dichotomie, Körper Macht, Privatheit, Religion oder Rassismus erschließen eher die philosophische, historische und soziologische Rüstkammer der Gender Studies, andere wie Blick, die aus der feministischen Filmtheorie kommen, weiten das Spektrum und betten musikalische Aspekte in einen allgemeinen kulturwissenschaftlichen Diskurs ein.
Untypisch für Lexika ist es, dass dem Stichwortalphabet ein knapp hundertseitiger historischer Teil vorgeschaltet ist. Für den Benutzer erweist es sich jedoch als Gewinn, wenn hier die einzelnen Säkula ab dem 12. Jahrhundert jeweils eine erzählende Gesamtdarstellung erfahren. Was im lexikalischen Teil detaillierter nachgeschlagen werden kann, findet sich hier vorab in Form eines Panoramas in seine Kontexte eingebettet.
Gerhard Dietel