Schneider, Klaus

Lexikon “Musik über Musik”

Variationen - Transkriptionen - Hommagen - Stilimitationen - B-A-C-H

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2004
erschienen in: das Orchester 12/2004 , Seite 81

„Der Acker ist bestellt, die Ernte kann eingefahren werden“, mag der Kulturpessimist denken, wenn er nach Alexander Reischerts Kompendium der musikalischen Sujets und Schneiders Lexikon Programmusik dieses neue Nachschlagewerk aus dem Bärenreiter-Verlag in Händen hält. Wirkt es nicht wie ein Resümee, wenn die abendländische Instrumentalmusik unter jeder denkbaren Fragestellung gesichtet und systematisiert wird? Doch die unbehagliche Frage mag man angesichts ihrer Konsequenzen lieber verdrängen und dafür solche Erschließungsmittel uneingeschränkt begrüßen: Jeder, der sich mit musikalischer Wirkungsgeschichte beschäftigt, weiß, wie wertvoll sie sind.
Was sich hinter dem kryptischen Titel verbirgt, wird im Inhaltsverzeichnis klar: Die erste und mit über dreihundert Seiten längste Abteilung weist in alphabetischer Abfolge rund 820 Komponisten und Interpreten nach, „die mit ihrem Werk und Wesen Spuren in der Musik anderer hinterlassen haben“ (Vorwort). Jeder Eintrag verzeichnet Variationswerke, komponierte Hommagen und weitere Bearbeitungsformen (z. B. die Vervollständigung von musikalischen Fragmenten und Rekonstruktionen), in denen „Spuren“ des betreffenden Komponisten erkennbar sind. Neben Altbekanntem (Beethovens Diabelli-Variationen, Ravels Tombeau de Couperin oder Griegs hybride Fassung der Mozart-Sonaten für zwei Klaviere) bewegt sich Schneiders Fährtensuche vorwiegend auf einer Terra incognita – er entdeckt etwa ein Tschaikowsky-Zitat in Arvo Pärts 1. Sinfonie oder die Huldigung an Mozart (Karl Höllers 2. Sinfonie).
Der zweite Teil dokumentiert Kompositionen über Volkslieder (auch über das Dies irae), der dritte verzeichnet Stilimitationen (z. B. Spohrs Historische Sinfonie im Stil und Geschmack vier verschiedener Zeitabschnitte oder Pillneys humoristische Eskapaden eines Gassenhauers). Der letzte Abschnitt, Musik über das Musizieren, ist der komponierten Musiknachahmung gewidmet: Mozarts Dorfmusikanten-Sextett oder Hindemiths „Engelkonzert“ aus der Mathis-Sinfonie seien stellvertretend genannt.
Doch bei dem unerschöpflichen Thema sind Defizite unausbleiblich und der gleichwohl verdienstvolle Band kann deshalb nur als Work in Progress begriffen werden: Häufig fehlt der Nachweis, worauf sich die „Musik über Musik“ bezieht – was hatte z. B. Walter Braunfels zu seinen Phantastischen Erscheinungen eines Themas von Hector Berlioz angeregt, welcher Gassenhauer geistert durch die erwähnten Eskapaden Pillneys (hier sei’s verraten: „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans“)? Der Beethoven-Zeitgenosse Joseph Gelinek, vor dem kein variationsfähiges Thema sicher war, fehlt bis auf eine knappe Erwähnung ebenso wie Zitat-Nachweise des berühmten Reiterlieds („Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd“) von Christian Jakob Zahn. Als kaum versiegende Füllhörner mit einer Flut musikalischer Erinnerungen, Fantasien, Reminiszenzen, Melodienkränze und -perlen seien RISM, Friedrich Hofmeisters Verzeichnisse oder Franz Pazdíreks Universal-Handbuch der Musik-Literatur empfohlen.
Georg Günther