Amon, Reinhard

Lexikon der Harmonielehre

Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazzakkorde

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Doblinger/Metzler, Wien/Stuttgart 2005
erschienen in: das Orchester 05/2006 , Seite 76

Der Autor, Dozent für Tonsatz an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, hat mit seinem Lexikon der Harmonielehre ein umfassendes Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik zwischen 1650 und 1900 vorgelegt, das das gesamte Gebiet in bisher nicht gekannter Vollständigkeit behandelt. Hier werden die Konzepte eines Nachschlagewerks und eines Lehrbuchs verbunden: Die Großgebiete sind nach Art eines Lexikons alphabetisch geordnet, innerhalb der Kapitel wird das jeweilige Thema dann nach Art eines Lehrbuchs behandelt. Tabellen im Anhang liefern eine zusätzliche Gesamtdarstellung einzelner Phänomene (z.B. Akkordsymbolschrift in Jazz und Popularmusik, Akkordverbindungen, Generalbass, Stufen- und Funktionstheorie etc.).
Der Lehrbuchcharakter überwiegt: Für ein reines Nachschlagewerk sind die Darstellungen der durmolltonalen Harmonik zu umfassend und komplex. Lexikalisch vorbildlich dagegen sind die zahllosen Querverweise. Das Buch enthält einen reichen Schatz an musiktheoretischem Wissen in zum Teil sehr kompakter Darstellung; es ist keine Lektüre, die man ohne abzusetzen durchliest; auch als Übungsbuch ist das Werk nicht angelegt. Insgesamt folgt die Anordnung des Stoffs eher dem Aspekt der Systematik als dem einer historischen oder didaktischen Aufarbeitung.
Eine bestechende Eigenschaft dieser Neuerscheinung ist, dass Begriffe immer in einer vielfältigen kontextuellen Umgebung erscheinen. Dieses Darstellungsprinzip führt lesetechnisch zu einiger Komplexität, garantiert aber einen dem Gegenstand angemessenen Reichtum an Querbezügen und inhaltlicher Vernetzung. Eine derartige Verflechtung schafft natürlich Layoutprobleme, die aber glänzend und ideenreich gelöst werden. Das Satzbild ist zwar sehr dicht, aber durch Mehrfarbdarstellung, aufgelockerte Anordnung sowie zahlreiche Notenbeispiele und Grafiken übersichtlich und zweckdienlich. Eine Randspalte enthält Literaturhinweise, Anmerkungen und Querverweise.
Im Zentrum steht die funktionstheoretische Erklärung der harmonischen Phänomene im genannten Zeitraum. Harmonische Strukturen der Musik des 20. Jahrhunderts werden nur in einem knappen Überblick im Anhang dargestellt. Der Leser kann sich einem Thema auf verschiedene Weise nähern: Man kann im Sach- oder Personenregister einen Begriff oder einen Namen suchen („Schenker“, „Vagierender Akkord“, „Wiener Klassik“) und an der Haupt- oder Nebenfundstelle Informationen über das Umfeld des Suchbegriffs beziehen; oder man kann mit der Lektüre eines Hauptkapitels („Quartsextakkord“) beginnen und je nach Vertiefungsbedarf den Verweisen folgen („Harmonischer Rhythmus“, „Schlussbildungen“, „Alterierte Akkorde“), um sich weiterführende Informationen im Zusammenhang mit dem aufgesuchten Thema zu verschaffen. Dabei führen die Verweise weit aus der reinen Harmonielehre hinaus bis zu knappen Darstellungen der akustischen Grundlagen, der geschichtlich-philosophischen Hintergründe oder der Geschichte der Musiktheorie(n).
Bei der beeindruckenden Menge an Inhalten, Querbezügen zwischen den Themengebieten und Randinformationen sind gelegentliche zweifelhafte oder unvollständige Aussagen tolerabel. Neben entschuldbaren kleinen Mängeln irritiert aber doch die Tendenz des Autors, einerseits gut formulierte, differenzierte und nach jeder Seite unanfechtbare Definitionen zu liefern, andererseits aber immer wieder mit Formulierungen wie „Akkordfolgen im Sekundabstand klingen ansteigend gut“ oder „die Umkehrungen des D7 sind immer vollständig“ in einen normativ-simplifizierenden Tonsatz-Unterricht zu verfallen, der eigentlich der Vergangenheit angehört.
Die Jazz-Harmonik erscheint zwar werbeträchtig im Untertitel des Buchs und in einer der Tabellen, die enge Verflechtung alterierter Harmonik mit der Jazzharmonik wird aber nicht grundsätzlich thematisiert: Viele Phänomene aus diesem Bereich ließen sich mit den Denkmodellen und Systemen der Jazztheorie aufschlussreich „von der anderen Seite“ beleuchten; die in der Jazzharmonik essenzielle „Akkord-Skalen-Theorie“ taucht im Sachregister nicht auf, ebenso wenig enthält das (ansonsten vorbildliche) Literaturverzeichnis die neueren Jazzharmonielehren z. B. von Haunschild oder Sikora.
Wenn man bedenkt, dass kein Team, sondern ein einzelner Autor diese schier unglaubliche Menge an Informationen, Beispielen und Quellen zusammengetragen, in vielfältiger Weise dargestellt und mit zahllosen Querverbindungen versehen hat, kann man vor einer solchen Leistung nur den Hut ziehen.
Christoph Hempel