Ort, Jirí

Leos Janácek – der späte Wilde

Liebe und Leben in Opern und Briefen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2005
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 76

Dieses Buch liefert eine Chronologie jener furiosen goldenen Schaffensperiode, die die letzten elf Jahre im Leben Janáceks umfasst. Und es erzählt die Geschichte einer Obsession: das Ringen um die Gunst einer Muse, die den Komponisten zu seinen späten Meisterwerken inspiriert hat. Orts Darstellung, die weniger wissenschaftlich als vielmehr auf eine exzellente Lebendigkeit und Plastizität ausgerichtet ist, mutet geradezu szenisch an. Der Autor baut den Protagonisten eine Bühne, nutzt ihre Texte als Dialog und macht ein außergewöhnliches Spiel sichtbar: Janácek gibt den glühenden Liebhaber und Kamila Stösslova, die 38 Jahre jüngere Angebetete, verheiratet und glückliche Mutter zweier Söhne, verharrt in der Rolle der Naiven. Daneben dominiert Zdenka, Leos’ Ehefrau und guter Geist seiner jungen Jahre, zwischenzeitlich die Dreierbeziehung.
Mehr als 700 Briefe hat Janácek an Stösslova geschrieben – voller Verehrung, Begehren, Enttäuschung. Etwa 200 hat er erhalten. Lange dauerte es, ehe sich das Wort Du in seine Korrespondenz einschleicht; das Deine fordert er von seiner Briefpartnerin vergebens. Den ersten und wohl einzigen Kuss, den sie ihm gewährt, löst einen Glückstaumel aus. Ein mehr an Zuneigung aber scheint er nicht erreicht zu haben – trotz vielfach geschwärzter Textstellen! Es ist so, wie Jirí Ort es psychologisch zutreffend beschreibt: Eine Muse muss unerreichbar bleiben; physische Distanz schafft den Raum für Fantasie und Verklärung, für Leidenschaft und schöpferische Kraft…
Bislang kannte man allein das Bild von 1928, das Janácek mit dem Ehepaar Stössel in Prag zeigt, und fragte sich verwundert, welche Reize seine Liebe derartig entflammt haben. Sieht man freilich Stösslovas Bild aus dem Jahr 1917, in dem Janácek sie kennen lernte, begreift man, weshalb er der „seltsamen Tiefe“ ihrer Augen, ihrer Schönheit und ihrem „süßen Nebel“, den er „einfangen“ möchte, verfiel und warum er bekennt, dass Stösslova in „jedem Nötchen sitzen wird“ und sie die Glut seiner Empfindungen anfeuere. Von Kát’a Kabanová bis zu Aus einem Totenhaus, vom Tagebuch eines Verschollenen bis zu den Intimen Briefen, in der Sinfonietta und in der Glagolitischen Messe ist es immer wieder die Geliebte, die die „anrührenden Melodien“ hervorlockt, die dort weilt, wo „reines Gefühl, Aufrichtigkeit, Wahrheit, innige Liebe“ zu warmem Ausdruck kommen. Dass sie seine Hingabe nicht erhört, beklagt Janácek noch am Ende seines Lebens: „Du bist so nah und immer so weit, Du bist wie ein schwarzes Wölkchen am Himmel; hoch – und ich kann Dich nicht erreichen! Ich weiß, Du bist so unermesslich schön; ich weiß nun, niemals werde ich mich mit Deiner Schönheit betrinken dürfen.“
Und die Muse fragt den verehrten Meister: „Es hat mir Leid getan, wie Sie ihr Schicksal beklagen. Ist denn bei Ihnen alles hoffnungslos? Waren Sie früher glücklicher? Auch Sie können einem das Leben schwer machen. Sind Sie vielleicht ein kleines Kind, das ohne Spielzeug nicht auskommt?“
Ein elfjähriges Kräftemessen – menschlich voller Rätsel und Auslöser eines künstlerischen Welterfolgs!
Eberhard Kneipel