Andreas Eichhorn, Paul R. Laird (Hg.)

Leonard Bernsteins Poetik

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: edition text + kritik, München
erschienen in: das Orchester 9/2025 , Seite 73

Leonard Bernstein (1918–1990) zählt nicht nur zu den bedeutends­ten US-amerikanischen Musikern des vergangenen Jahrhunderts, sondern er gehört auch zu jener in der Musikgeschichte seltenen Spezies des universalen Musikers: Bernstein wirkte als Dirigent, Komponist und Pianist sowie als Vermittler von Musik und setzte sich auch theoretisch mit ihr auseinander. Sein poetisch-musikästhetisches Denken spiegelt sich in seinen Schriften, seinen künstlerischen Produktionen als Interpret und Komponist, seinen musikvermittelnden Medienformaten und seinen Musikfilmen. Dieses neue Buch nimmt endlich einmal ebenso gründlich wie facettenreich Leonard Bernsteins Poetik in den Blick. Zugrunde liegen die Beiträge jener gleichnamigen internationalen Tagung, die vom 17. bis zum 22. Juni 2022 im Beethoven-Haus in Bonn stattfand. Bernstein-Forscherinnen und -Forscher aus Deutschland, Österreich, den USA, Kanada und Israel befassten sich mit den Bereichen „Beethoven“, „The Unanswered Question“, „Politics“, „Vermittlung“ und „Poiesis“.
Das Ergebnis ist durchaus ein wissenschaftliches Fachbuch, aber insgesamt gut verständlich geschrieben. Das passt auch zum Gegenstand, denn dem Ideal der unmittelbaren Verständlichkeit fühlte sich auch Bernstein verpflichtet – was ihm außerdem von anderer Seite bescheinigt wurde. Seine kompositorische Ästhetik kam von seinen Abgöttern Gustav Mahler und vor allem Igor Strawinsky her und wurde ihm auch durch Nadia Boulanger und deren Schüler Aaron Copland vermittelt. Demnach musste die Tonalität durch Mehrdeutigkeit gerettet werden, insbesondere durch die Auswahl der „richtigen Note“ (die auch eine gezielt „falsche Note“ sein kann).
Besonders spannend erscheint der abschließende Aufsatz von Elizabeth A. Wells über „Bernstein and Strawinsky“. Der Ältere war das größte Vorbild des Jüngeren, für ihn der führende moderne Komponist, und Bernstein übernahm von Strawinsky den Ansatz, Neues aus der Musik der Vergangenheit zu kreieren und alles aus kleinsten motivischen Zellen von bis zu vier Tönen zu bauen. Schon Bernsteins frühe Ballettpartituren Fancy Free und Facsimile enthalten ein Soloklavier wie Strawinskys Petruschka. Wells legt überzeugend dar, wie der Jüngere mit einigen seiner wichtigsten Werke die Meisterwerke des Älteren jeweils nicht nur zu imitieren, sondern sogar noch zu übertreffen suchte, konkret The Rake’s Progress mit Candide, die Psalmensymphonie mit den Chichester Psalms, das Ebony Concerto ausdrücklich mit Prelude, Fugue and Riffs, Der Feuervogel und Le sacre du printemps mit der West Side Story, die Elegy for JFK mit den Anniversaries und als abschließenden Höhepunkt Oedipus Rex mit der MASS.
Ingo Hoddick

 

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support