Maurice Ravel
L’Enfant et les Sortilèges
Fantaisie lyrique en deux parties Urtext, hg. von Jean-François Monnard, Partitur/Klavierauszug
Colette hat mit ihrem Divertissement pour ma fille eine Textvorlage geliefert, die vor lautmalerisch geprägten Dialogen und konkreten Hinweisen auf klangliche Ereignisse aller Art nur so strotzt. Ravel vertonte sie zu der L’Enfant et les Sortilèges genannten Fantaisie lyrique, von der Jean-François Monnard bei Breitkopf & Härtel nun ein vollständiges Aufführungsmaterial im Urtext vorgelegt hat. Der Name der Autorin wurde nicht auf der ersten Notenseite abgedruckt. Ein ausführliches Vorwort von Monnard beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Werks und Ravels tiefe Identifikation mit dem Stoff. Dabei wird klar, dass Ravel seine musikalischen Vorstellungen nicht als Selbstzweck mit akribischer Genauigkeit in Notenschrift gefasst hat, sondern um eine präzise klangliche Wirkung zu erzielen. In der Ausführung entfaltet sich daraus ein unwiderstehlicher Zauber.
Das mit großer Sorgfalt neu gesetzte Notenbild macht jede musikalische Nuance in bisher nicht vorliegender Deutlichkeit offenbar. Ohne Einbußen der Lesbarkeit lassen sich dank eines Satzspiegels von 2:3 (statt 3:4 bei Durand) in zwei Akkoladen sogar 16 Takte unterbringen. Die Seitenzahl wurde von Durands 212 auf 163 reduziert, was die formalen Zusammenhänge augenfällig macht und die Häufigkeit der Blättervorgänge deutlich verringert. Ein Revisionsbericht dokumentiert die Ergebnisse der gewissenhaften Quellenauswertung. Kurzum: Diese Partitur ist ein Aushängeschild der von Monnard betreuten Ravel-Neuausgaben bei Breitkopf & Härtel.
Am Klavierauszug, mit seinem grundsätzlich ebenfalls gut lesbaren Druckbild, fällt schnell die mangelnde Gründlichkeit auf, gleiche Notenwerte, die aufgrund unterschiedlich langer Silben auseinandergezogen wurden, wieder in wohlproportionierte Abstände zu bringen (T. 1144).
Die Haupterrungenschaft der neuen Reduktion (online frei einsehbar) sei laut Verlag die Angleichung an die Partitur. Ravels überaus defizitäres Arrangement wurde zwar inhaltlich verbessert, die Anzahl der verbliebenen Fehler ist aber hoch. Eklatant ist, dass es immer noch Pausentakte im Klaviersatz gibt, obwohl das Orchester an den betreffenden Stellen spielt und der Sänger daher dem Dirigenten folgen muss (T. 330, T. 421 ff., T. 881, T. 884). Herausstechende perkussive Effekte wurden nicht kenntlich gemacht (T. 617, T. 646). Notenwerte, Artikulation und Dynamik wurden weiterhin nicht berichtigt bzw. ergänzt (T. 173, T. 352 ff., T. 343, T. 943). Angaben zur Instrumentation wurden zwar hinzugefügt, fehlen aber an etlichen zentralen Stellen. Schließlich hätte es der Zugänglichkeit des Werks gedient und auch Colette zur Ehre gereicht, in den Libretto-Übersetzungen im Anhang das als pseudo-asiatisch verkleidete Französisch der Chinesischen Tasse zu transkribieren.
Christian Dammann


