Ravel, Maurice
L’Enfant et les Sortilèges / Ma Mère l’Oye
Namen wie Magdalena Kozená, Annick Massis oder José van Dam zieren, neben anderen, die Besetzungsliste dieser neuen Berliner Produktion. Solide bis bravourös (Nathalie Stutzmann!) lösen die Starsolisten ihre Aufgaben, doch es sind nicht einzelne Sänger, die Ravels “LEnfant et les Sortilèges” unter Simon Rattle entscheidend prägen. Die Fantaisie lyrique von 1925, knapp eine Dreiviertelstunde lang, ist alles andere als eine Primadonnen- und Belcanto-Oper.
Das Libretto von Colette erzählt von der Fantasie eines sechsjährigen Kindes, dem nach einem zerstörerischen Trotzausbruch seine kleine Welt magisch verwandelt gegenübersteht. Die Objekte seines Furors: Tiere, Pflanzen, Möbel, selbst Tapetenfiguren, sind urplötzlich beseelt und wenden sich gegen das Kind. Ravel macht aus dieser Geschichte einen traumhaften musikalischen Reigen, in dem das Possierliche unversehens ins Bedrohliche kippen kann und das Nebeneinander von Foxtrott und Chinoiserie, von archaisierender Pastorale und Valse lente als das Allernatürlichste erscheint. Zu dieser fantastischen Buntheit der Stilebenen gehört auch, dass Ravel den Klang seines vokal-instrumentalen Apparats immer wieder denaturiert mit ungewöhnlichen Instrumentenkombinationen, mit Spielweisen, die aus dem Jazz übernommen sind, oder mit einem Singen, das durch Nasale oder Glissandi verfremdet ist und in den Sprechgesang wechseln kann.
Hier setzt Simon Rattles Interpretation an. Im Vergleich etwa mit der letzten Referenzaufnahme, die Charles Dutoit 1992 bei Decca produziert hat, wird sehr deutlich, dass Rattle das Überzeichnete, zuweilen Grelle an diesem musikalischen Tagtraum in den Vordergrund stellt. Stets geht die Tendenz dahin, den Klang zu schärfen und Kontraste zuzuspitzen. Die Berliner Philharmoniker spielen das mit virtuoser Konsequenz aus und tragen wesentlich dazu bei, die enorm moderne Seite von Ravels Partitur zu verwirklichen. Doch auch das Weichgezeichnete, das traumverloren Poetische hat in dieser Partitur seinen Platz. Und hier, zum Beispiel beim Bild des nächtlichen Gartens zu Beginn von Teil II, liegt die Stärke der Einspielung Dutoits, der weniger vom kultivierten französischen Klang abzurücken bereit ist.
So bietet die Rattle-Aufnahme die gekoppelt ist mit “Ma Mère lOye”, und zwar in der siebensätzigen, zu einem Märchen-Ballett erweiterten Orchesterversion einen etwas ambivalenten Eindruck, der sich zuletzt auch am Chor festmachen lässt. Vollendet klangschön gelingt dem Rundfunkchor Berlin das abschließende Il est bon, lEnfant; im Schäferchor der Pastorale ist die überlegene französische Diktion von Dutoits Sängern ein merklicher klangfarblicher Pluspunkt.
Thomas Gerlich