Legacy: Violin Music of African-American Composers
Werke von Francis Johnson, George Morrison, David Baker, Ozie Cargile, Chad "Sir Wick" Hughes
In der afroamerikanischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten gab es neben den Blues- und Jazzmusikern immer auch Komponisten klassischer oder zeitgenössischer Musik. Diese Werke neben denen der populären Musik zu erforschen und zu dokumentieren, hat sich das Center for Black Music Research (CBMR) am Columbia College in Chicago zur Aufgabe gemacht. Ein eigenes New Black Music Repertory Ensemble führt solche Kompositionen auf, und das CBMR hat eine Reihe von CDs aufgelegt, in der die Musik zugänglich gemacht wird. Nach einer Disc mit Orchestermusik von Mary D. Watkins und Olly W. Wilson liegt nun ein neues Volumen unter dem Titel Legacy: Violin Music of African-American Composers vor, eingespielt vom multi-ethnischen Duo Tami Lee Hughes und Ellen Bottorff.
Wie lange Afroamerikaner schon komponieren, zeigt der erste Track der CD, das heitere Tanzstück Binghams Cotillion aus dem Jahr 1820 von Francis Johnson (1792-1844), einem Musiker aus Philadelphia. Bereits 1837 gastierte er in Europa, also fast ein Jahrhundert, bevor Sam Wooding mit seiner Band in den 1920ern nach London, Paris, Hamburg und Berlin kam. Johnson ist als erster in den USA verlegter schwarzer Komponist gut dokumentiert, 1988 spielte eine Chestnut Brass Company an der Rutgers University in New Jersey dieses Stück in Ensemblestärke ein neben Musik seiner Zeitgenossen. George Morrison (1891-1974) aus Denver ist mit fünf recht differenzierten Bearbeitungen bekannter Spirituals und einem eigenen Lullaby der nächste Komponist dieser CD. Er hatte das für schwarze Streicher seiner Zeit typische Schicksal: Wegen seiner Hautfarbe wurde er nicht Mitglied eines Orchesters. So wirkte er als Jazzmusiker, aber auch als Lehrer.
Mit dem 1931 geborenen David Baker, ursprünglich Jazzposaunist, heute Professor und Dekan an der Indiana University, erreicht die Stückefolge die Moderne. Sein fünfteiliges Werk von 1979 heißt zwar Jazz Suite, doch weisen ihr Changieren zwischen freitonaler und atonaler Faktur und die Vielseitigkeit anspruchsvoller Spieltechniken die Komposition als Neue Musik aus. Verschiedene afroamerikanische Rhythmen wie Boogie-Woogie und Calypso prägen die Sätze mit den programmatischen Titeln Harlem, Saturday Night und Jamaican Jam. Andere Untertitel wie Mintons und 52nd Street verweisen auf Lokalitäten in New York, die als Laboratorien des Modern Jazz in den 1940ern galten. Besonderen Reiz besitzt das balladeske Perfume/Perspiration.
Eine ähnliche, fast neoromantische Attitüde hat Mixed Feelings (2000) des heute 30-jährigen, an der University of Michigan ausgebildeten Ozie C. Cargile, der 2008 mit Orchesterwerken in der Lamont Symphony Denver vertreten war. Der drei Jahre ältere Chad Sir Wick Hughes bezieht sich mit S.L.I.C.E. (2009) auch auf Konzepte des Jazz-Stars Miles Davis. Das ist das Besondere dieser Musiker: Sie leugnen nicht ihre Wurzeln, können aber in jedem zeitgenössischen Kontext bestehen.
Günter Buhles