Lebendige Antike

"Narziss und Echos Goldmund". Ovid/Benjamin Britten, Hörbuch

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2005
erschienen in: das Orchester 02/2006 , Seite 78

Benjamin Britten hat in seinem letzten Kammermusikwerk Six Metamorphoses after Ovid op. 49 ein kleines Meisterstück für Oboe solo geschaffen, und zwar gedacht in freier Natur zu erklingen. Das war 1951 beim Aldeburgh Festival. Solist und Publikum befanden sich in Kähnen. Da werden all die vertrauten mythischen Gestalten lebendig und die Oboentöne des Christian Petrenz fangen sie charakterisierend ein. Die lebendig-kompetente Moderation von Kurt Roeske wechselt mit Brigitte Goebels Erzählungen. Sie spricht Ovid in der Übertragung von Hermann Breitenbach mit innerer Anteilnahme und melodisch gefärbtem Stimmklang. Man fühlt sich mit Leichtigkeit in die einzelnen Gestalten und deren Schicksal ein.
Da geht es um Phaeton, den Sohn Apolls, der den Sonnenwagen seines Vaters nicht zu halten vermag und den Jupiter in den Eridanus stürzen lässt. Man versetzt sich in die Nymphe Syrinx, die sich auf der Flucht vor Pan in eine Rohrflöte verwandelt, in die Nymphe Echo, die Narzissus liebend verfolgt und die zur Stimme wird, oder in Aretusa, die vor Alpheus, dem Flussgott, die Flucht ergreift und die Artemis zur Quelle werden lässt.
All diese Szenen, auch die grausame der Niobe, deren Hochmut die Götter hart bestrafen, indem sie sie in einen weinenden Fels verwandeln, fängt der Oboenton auf wundersame Weise ein. Schöne Melodielinien, von kleinen Melismen unterbrochen, mit Staccati angereichert, einer Improvisation angenähert, erfassen das Wesen der Syrinx. Wenn Phaeton die Rosse lenkt, meint man die Flammen lodern zu sehen. In so erregte Bewegung gerät die Oboe, dass man sogar Jupiters Blitzstrahl zu erkennen meint. Bei Niobe sind es lang gezogene, trauervolle Töne, klagende Weisen, ein weiches Legato, leiser werdend und am Ende aufbrechender Schmerz. Narzissus sagte der Seher Tiresias ein langes Leben voraus, wenn er sich selbst fremd zu bleiben vermochte. Er wurde für seine Selbstverliebtheit bestraft und in eine Blume – die Narzisse – verwandelt, während von der Nymphe Echo, die an unerwiderter Liebe zu Grunde ging, nur die Stimme blieb. Wie ein Nachsinnen wirken die lang gesponnenen Töne, die sich sachte steigern. Da ist es wie Frage und Antwort und immer wieder Echo-Effekte. Intervalle weisen in ferne Welten. Und endlich die Nymphe Aretusa, die im Hirtenland Arkadien lebt und beim Baden von Alpheus entdeckt und bedrängt wird, bis Diana eine Wolke schickt und sie in eine Quelle verwandelt. Jetzt zaubert die Oboe wunderschöne grazile Tonfolgen hervor, fast wie das Glitzern eines Springbrunnens in der Sonne. Da herrscht eine schier endlose Bewegtheit, die Linien scheinen sich zu umschlingen und kleine Triller setzen zauberhafte Akzente.
Christian Petrenz, Oboist und Solo-Englischhornist beim Philharmonischen Orchester Mainz, ist ein idealer Interpret des oft nicht einfach zu gestaltenden Notentextes. Immer wieder wird man von dynamischen Feinheiten, Klangfarben, Artikulation und Schattierungen gefangen genommen und vermag sich in die einzelnen Szenen einzuleben – eine höchst gelungene Einspielung.
Ingrid Hermann