Cordts, Rainer

Leanders Passion

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Heyne, München 2004
erschienen in: das Orchester 01/2005 , Seite 82

Wir befinden uns im Jahr 1765 am Hof eines Musik liebenden Herzogs in Württemberg, der sich zwei Hofcompositeure leistet sowie den Neubau eines Opernhauses. Zufällig kommt auch das Wunderkind Wolfgang Amadeus vorbei, und dann wird der Welt ein weiteres Genie beschert.
Leander Lautenschläger, Hauptfigur in Rainer Cordts’ Erstlingsroman, ist zwar krank an Körper und Seele, ein gesellschaftlicher Außenseiter und mehrfacher Frauenmörder, verfügt aber über derart außergewöhnliche Fähigkeiten und eine solche Anziehungskraft, dass sowohl die übrigen Romanfiguren als auch die geneigte Leserin/Rezensentin grübeln, ob er denn nun ein guter Mensch ist oder nicht.
Offensichtlich kann er einfach alles, was er anpackt. Vor allem aber verfügt er über die Fähigkeit, bei Reizung von nur einem Sinnesorgan gleichzeitig Sinneseindrücke verschiedener Sinnesgebiete zu erleben – Stichwort Sy-nästhesie (man erinnere sich an Johannes Elias Alder in Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder). Hätte Leander nicht einen solchen Grobian als Vater gehabt, hätte er der Welt phänomenale Werke hinterlassen. Dieser Vater argwöhnt jedoch, dass der Knabe untergeschoben und der leibliche Vater ein umherziehender Fiedler ist. Grund genug, die Ehefrau tot und den Zwölfjährigen taub zu schlagen und für immer zu traumatisieren.
Durch Zufall findet der jugendliche Leander jedoch heraus, dass Leidenschaft und Todesangst zufälligerweise junger und schöner Frauen ihm großartige musikalische Einfälle bescheren. Leander tötet also, um sein Opus summum zu komponieren.
Durch einen weiteren Zufall und über die berufliche Station als Holzarbeiter landet der musikalische Mörder am Hof des besagten Herzogs bzw. auf der Baustelle für dessen neues Opernhaus. Dort gerät einer der beiden unbegabten Hofcompositeure zufällig in den Besitz einer Kompositionsskizze des Tauben, entstanden bei einer öffentlichten Hinrichtung, und schlachtet diese für seine eigene neue Komposition aus. Wütend darüber steckt Leander das Opernhaus bei der feierlichen Einweihung in Brand und löst ein Inferno aus. Aber ein gnadenlos süßes Happy End versöhnt uns schlussendlich mit den erlittenen Grausamkeiten.
Soweit die Geschichte, der ein paar Zufälle und Ereignisse weniger gut getan hätten. Zweischneidig der Versuch, dem historischen Roman eine historische Sprache zu geben. Das geschieht nicht konsequent und gemahnt stilistisch an das 19., nicht das 18. Jahrhundert.
Befremdlich schließlich ist die Annahme, Komponieren könne eine quasi angeborene Fähigkeit sein: Jemand, der keinerlei Unterweisung in Harmonielehre, Kontrapunkt und vierstimmigem Satz erhalten hat und dessen Erfahrungsschatz sich auf die Lieder beschränkt, die Mutter und Dorfschullehrer mit ihm gesungen haben, kann schwerlich im Stil seiner Zeit komponieren. Synästhesie ist das eine, aber Komponieren können das andere.
Andrea Raab