Dutilleux, Henri

Le temps l’horloge

Fünf Episoden für Sopran und Orchester auf Gedichte von Jean Tardieu, Robert Desnos und Charles Baudelaire, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: das Orchester 10/2014 , Seite 67

Mal schwebt sie vorüber, mal stürmt sie voran. Mal wogt sie vor sich hin, mal entfacht sie eine rauschende, ja berauschende Kraft – die Zeit. Gedichte über das Vergehen und das Verstreichen, über die Endlichkeit und die Unendlichkeit der Zeit fasste Henri Dutilleux für das Saito Kinen Fes­tival im japanischen Matsumoto im Jahr 2007 zusammen. Zwei Jahre später ergänzte er den Zyklus um zwei weitere Gedichte: Das eine: Le futur antérieur von Jean Tardieu dient als Stimmungsvorlage für das rein instrumentale Zwischenspiel (Interlude); das zweite: Charles Baudelaires Prosagedicht Enivrez-vous schließt nun den Zyklus ab.
Trotz der thematisch engen Klammer ist Dutilleux’ Kammermusikstück Le temps l’horloge kein Stückchen Programmmusik des beginnenden 21. Jahrhunderts. Obwohl tief in der Tradition der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehend, findet Henri Dutilleux in seinem Spätwerk einen sehr persönlichen und quasi abgeklärten Ausdruck. Aus kleinen Motivfetzen entwickeln sich feine Gespinste in jedem einzelnen Abschnitt. Sei es ein wiegender Sechzehntellauf wie in der namensgebenden ersten Episode, sei es ein diffuses, fast nebliges Charakterstück getragen durch die Spannung verminderter und übermäßiger Akkorde. Immer ist seine Sprache direkt treffend und sehr, sehr intim.
Aber interessanter als die Melodik oder die harmonischen Kapriolen ist das Klangdickicht. Ungewöhnliche Instrumentenpaarungen, wie Cembalo und Klarinette oder Akkordeon und Harfe, setzen markante Akzente. Und der Solopart ist der sanften und klaren Intonation der amerikanischen Sopranistin und  Widmungsträgerin des Zyklus Renée Fleming auf die Stimme geschrieben. Die großen Sprünge verlangen Sicherheit, die markanten Höhen fordern Strahlkraft und ein gehöriges Maß an Wandlungsfähigkeit.
Wie bei allen Ausgaben der Schott-Studienpartituren üblich, so ist auch diese Ausgabe eher für den Schreibtisch als für das Notenpult geeignet. Die Partitur ist durchgehend klingend notiert und nicht gerade wendefreundlich gesetzt, aber ansonsten im Druckbild klar und gut lesbar.
Das hochwertige und blendfreie Papier lädt geradezu zum Lesen und Durchdenken des Zyklus ein. Hilfreich ist der Abdruck der französischen Gedichttexte vor dem Notentext. Gerade das zwar textlose, aber auf dem Gedicht von Jean Tardieu fußende instrumentale Zwischenspiel ist auf diese Weise leichter zu fassen.
Leider vermisst man allerdings trotz des mehrsprachigen Titelblatts eine Übersetzung der französischen Lyriktexte. Für den des Französischen nicht mächtigen Leser/Hörer geht so viel, sehr viel an Gefühl und Spannung verloren. Aber das ist dann auch schon der einzige Makel an einer sonst sehr gefälligen Ausgabe.
Markus Roschinski

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