Strawinsky, Igor

Le Sacre du printemps/Symphonies of Wind Instruments/Apollon musagète

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI Classics 50999 7 23611 2 2
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 78

Einhundert Jahre ist es jetzt her, dass eines der Schlüsselwerke der Neuen Musik seine Uraufführung erlebte: Igor Strawinkys Le Sacre du printemps. Die Premiere am 29. Mai 1913 ging im Lärm des Publikums unter; es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Den Siegeszug der Komposi-tion konnte dies jedoch nicht verhindern. Und so wird der Geburtstag des Frühlingsopfers auch von der Plattenindustrie gebührend gefeiert. Sony und Universal veröffentlichten gar ganze CD-Boxen mit diversen Interpretationen des Werks. Zu den Neuveröffentlichungen zählt die vorliegende Liveaufnahme mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern.
Rattle hat sich schon mehrmals auf Tonträger mit dem Sacre beschäftigt: Bereits 1977, als er am Beginn seiner Karriere stand, spielte er es mit einem britischen Jugendorchester ein; es folgte eine Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra (1987) sowie, mit den Berlinern, der Soundtrack zum Film Rhythm is it!. Der Sacre ist also so etwas wie ein tägliches Brot für den Dirigenten – und natürlich auch für die Musiker, die das Stück bereits mehrmals unter Karajan eingespielt haben.
In Rattles früheren Aufnahmen war bereits festzustellen, dass er nicht zu jenen Dirigenten zählt, die vor allem die Schockwirkung, die die Uraufführung auf das Publikum ausübte, nachzuvollziehen trachten. Die Evozierung heidnischer Brutalität steht auf seiner Prioritätenliste relativ weit unten. Dafür realisiert er mustergültig das kreatürliche Element der Partitur – jenes langsame Aufkeimen des Frühlings aus starrer, unbelebter Materie. Es gelingt Rattle, das motivische Geflecht der Partitur geradezu röntgenologisch genau abzubilden, sodass vor allem in den langsamen, lyrischen Passagen – etwa zu Beginn des zweiten Teils – ungezählte wertvolle Details zu hören sind, die sonst oft verborgen bleiben. Dessen ungeachtet bleibt Rattle auch dem archaischen Aspekt der Partitur nichts schuldig: Der abschließende „Danse sacrale“ erklingt angemessen bedrohlich und schneidend – aber es findet kein Exorzismus statt. Bei Rattle zeigt sich in Strawinskys Tonsprache neben rhythmischer Vitalität und raffinierter Klangfarbenbehandlung eben auch organische Wärme. Sowohl was die Orchesterleistung angeht als auch in Sachen Klangqualität hat die vorliegende Einspielung gegenüber den früheren deutlich die Nase vorn.
Die Streicher der Berliner Philharmoniker haben in der Ballettmusik Apollon musagète ein weiteres Mal Gelegenheit zu glänzen. Rattle nimmt sich in dieser Partitur noch ein wenig mehr Zeit als in Birmingham, was in einer sorgfältig austarierten Interpretation voll innerem Glanz resultiert. Für die Interpretation der Bläsersinfonien wählte Rattle die Erstfassung von 1920, die mit ihren gedeckteren, milderen Orchesterfarben (u.a. mit Altflöte) seinem im besten Sinne warmherzigen Strawinsky-Stil stärker entgegenkommt als die kühlere, eher blockartig instrumentierte Revision von 1947.
Thomas Schulz