Strawinsky, Igor
Le Sacre du printemps
A silent movie to the music of Igor Stravinsky by Oliver Herrmann
Während ich den ‚Sacre komponierte, sah ich das Schauspiel vor mir als eine Folge ganz einfacher rhythmischer Bewegungen, die von blockartig aufgebauten Gruppen ausgeführt werden [
] Alle überflüssigen Einzelheiten, alle Verwicklungen, die den großen Eindruck hätten abschwächen können, sollten verbannt sein, schreibt Strawinsky in Chroniques de ma vie. Er hat bekanntlich die Choreografie der Uraufführung 1913 durch Nijinski scharf kritisiert, vermutlich, weil sie seinen oben genannten Forderungen nicht entsprach. Ballettproduktionen von Mary Wigman, Maurice Béjart und John Neumeier sind in der Folgezeit als problematisch empfunden worden, offenbar, weil es schwierig war, archaische Szenen aus dem heidnischen Russland einem modernen Publikum verständlich zu machen.
Das Problem wird nicht kleiner, wenn man das Original-Sujet ganz fallen lässt, wie es Oliver Herrmann in seinem Stummfilm macht, der auch auf den Ballettcharakter verzichtet und Strawinskys Musik in einer Art Mood-Technik mehr oder weniger passend als Begleitung einsetzt. In einer Mischung aus Fantasy, Esoterik und Erotik beruht der Film auf folgender Handlung: Gott erschafft drei Menschen, indem er diese in Gestalt einer schwarzen Frau in der Küche wie Spekulatiusfiguren backt, zugleich eine moderne Wolkenkratzer-Welt hervorzaubert und seine Figuren hineinsetzt: Esther, die sich in ihrem Leid über den Tod ihres Ehemanns selbst verliert, Lucia, die von ihrem Vater missbraucht worden ist und durch wahllosen Sex mit beliebigen Männern sich selbst zerstören will, und Dr. Bardot, ein Gehirnchirurg, der sich vor dem Chaos der Welt zurückgezogen und allen Gefühlen abgeschworen hat zugunsten rationaler Ordnungsvorstellungen. Auf dem Höhepunkt ihrer Obsessionen führt Gott eine Sonnenfinsternis herbei und versetzt die drei auf eine tropische Insel. Dort werden sie in einem Ritualhaus in die Riten der Santeria-Religion einer archaischen Religion, die noch in Mittel- und Lateinamerika praktiziert wird eingeführt und auf magische Weise von ihren Obsessionen geheilt. Gott versetzt sie in ihre Welt zurück, Esther hat neuen Lebensmut, Lucia gewinnt einen wirklichen Freund und Dr. Bardot zerschlägt die Mauer, die er zwischen sich und der Außenwelt aufgebaut hatte. So weit kurzgefasst die Handlung des Films.
Der Film ist raffiniert gemacht und zeichnet sich insgesamt durch eine poetisch-musikalische Atmosphäre aus. Aber es entsteht ein Widerspruch zwischen dem erzählenden Charakter des Films und dem Tanzgestus von Strawinskys Musik. Die ganze Sache muss von Anfang bis Ende im Tanz ausgedrückt sein, es gibt keinen Takt pantomimischer Darstellung, hat der Komponist gesagt. Natürlich passt auch die verwickelte Psychologie der Filmhandlung nicht zur archaischen Wildheit der strawinskyschen Rhythmen, wie sie in Simon Rattles Interpretation mit den Berliner Philharmonikern überzeugend zum Ausdruck kommt. So bleibt der Eindruck, dass Herrmanns Projekt ein interessantes, aber recht fragwürdiges Experiment ist.
Elmar Bozzetti