Koechlin, Charles

Le Portrait de Daisy Hamilton op. 140

Heft 7: Zehn Stücke für Streichsextett

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2010
erschienen in: das Orchester 11/2010 , Seite 70

Charles Koechlin ist noch immer einer der großen Unbekannten der klassischen Musik. Vielleicht liegt das an der Tatsache, dass sich der 1867 geborene Franzose zeit seines langen musikalischen Lebens mit den unterschiedlichsten Musikgattungen, den ungewöhnlichsten Formen und Formationen auseinandergesetzt hat. Vom kleinen Salonstück bis zur riesig besetzten sinfonischen Dichtung, von der Fuge bis zur Tondichtung ist in seinem Œuvre so gut wie jede denkbare Ausprägung der so genannten E-Musik zu finden – ohne dass sich auf die Schnelle prägnant formulieren ließe, was nun die Musiksprache Koechlins wirklich ausmacht.
Sehr stark reagierte der Komponist auf vielerlei Einflüsse äußerer Art. So faszinierte ihn vor dem Zweiten Weltkrieg insbesondere das Kino und seine damaligen Stars wie Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Charlie Chaplin. Das führte zu einer intensiven Beschäftigung Koechlins mit dem Medium der Filmmusik, zu deren Gattung er allerdings – vielleicht auch aufgrund seiner hohen theoretischen Ansprüche – keine nachhaltig wirkenden Beiträge beisteuern konnte. Filmauftritte von Lilian Harvey schließlich inspirierten ihn zu einem mehr oder weniger imaginären Filmszenario mit dem Titel Le Portrait de Daisy Hamilton, zu dem Koechlin
neben Inhalt, Regie- und Beleuchtungsanweisungen auch 89 Musikstücke konzipierte. 68 davon sind mehr oder weniger vollständig zumindest als Klavierauszug bzw. Particell ausgearbeitet und dabei in ihrer musikalischen Gestalt äußerst unterschiedlich angelegt: vom schlichten Lied bis zur sinfonischen Dichtung en miniature reichen die Charaktere.
Im Schott-Verlag sind die vom Komponisten ausgearbeiteten Nummern nun in sieben Bänden und unterschiedlichen kammermusikalischen Instrumentierungen erschienen. Der vorliegende letzte Band enthält dabei zehn Stücke für Streichsextett, die aufzeigen, wie Charles Koechlin sich die ideale Filmmusik vorgestellt haben mag. Feinsinnige Charakterisierungen und zurückhaltende Stimmungsschilderungen liegen ihm dabei mehr am Herzen als plakative Tonmalereien oder knallige Melodien und Rhythmen. Man möchte sogar meinen, Koechlin hätte in vielen Stücken eine Art musikalischen Weichzeichner verwendet. All das scheint indes bestens geeignet, von der aparten Besetzung eines Streichsextetts (sei es nun mit oder ohne Kontrabass) dargestellt werden zu können.
Koechlins an Anweisungen reicher Notentext gibt den ausführenden Streichern dabei genügend Hinweise, wie die Stimmungsbilder wie „Resignation“, „Rückkehr der Unbekümmertheit“ oder „Beklemmende Angst“ darzustellen sind. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, eine stilvolle Gratwanderung zwischen bildhaftem, expressivem Ausdruck und gehobener Salonmusik hinzubekommen. Es winkt der Lohn substanzreicher Unterhaltung – und der einen oder anderen Uraufführung der Koechlin-
Miniaturen.
Daniel Knödler